DIE REALITÄT

Schwester Elvira...   Das lange Sterben...   Patienten im Wachkoma ...   Fall Schiavo ...   perfekt versorgte Hülle ...   schwieriges Gesetz ...   Getötet werden ...   Mann der sterben wollte ...   Sterbehilfe längst akzeptiert ...   Vorher Kugel in den Kopf ...   Sterbehilfe in Zürich ...   Der gute Tod ist teuer ...  

Schwester Elvira...
Auszug aus der ZEIT vom 27.4.2006

Was wäre wohl geschehen, wenn damals die Leiter nicht umgefallen wäre? Wenn sie allein wieder vom Kirschbaum heruntergekommen wäre, wenn nicht die Nachbarin der schreienden 97-Jährigen zu Hilfe hätte eilen müssen? Und wenn diese daraufhin nicht ins Heim eingewiesen worden wäre? Gut möglich, dass Theresa Hansen* dann zu Hause gestorben wäre, an die hundert Jahre wäre sie wohl alt geworden, und bei der Beerdigung hätte es geheißen, dass sie bis zuletzt eine rüstige Frau gewesen sei, wenn auch am Schluss etwas schrullig.

Nun liegt Theresa Hansen in einem der zwei Betten von Zimmer 404 im Haus Begonie, einem fünfstöckigen, schlichten Bau, der zum riesigen Gebäudekomplex des Hamburger Hospitals zum Heiligen Geist gehört. 103 Jahre ist sie inzwischen alt und immer noch kerngesund, wenn man von ihrem Gehirn absieht, dessen Verfall sie, so weit sich das von außen beurteilen lässt, auf das geistige Niveau eines Säuglings zurückgeworfen hat.

Manchmal schreit Frau Hansen tagelang, niemand weiß, warum, aber das Schreien verlängert ihr Leben, denn es hält die Atemwege intakt und die Lungenentzündung fern. Nichts spricht dagegen, dass sie auch ihren 104. und 105. Geburtstag in ihrem Bett in Zimmer 404 verbringen wird.

Hier aber soll es nicht um Theresa Hansen gehen, sondern um die Frau, die ihren mageren und verkrümmten Körper wäscht, ihr eine frische Windel umlegt, die ihr das Schmuseschaf in den Arm drückt, die Bettdecke aufschüttelt und bei all dem freundlich auf sie einredet. Elvira Pittelkau heißt diese Frau. Sie ist 54 Jahre alt, gelernte Krankenschwester, seit fünf Jahren stellvertretende Stationsleiterin im Hospital zum Heiligen Geist. Und sie ist, das sei, um möglichen Missverständnissen vorzubeugen, gleich gesagt, ein glücklicher Mensch. Dafür mag es verschiedene Gründe geben, aber einer davon ist ganz sicher ihre Arbeit....

Das lange Sterben des Walter K.

Wie der Wunsch nach einem würdigen Lebensende im Räderwerk von Krankenhaus, Pflegeheim und Gerichten untergeht

von Martin Spiewak

aus DIE ZEIT Nr. 17 vom 19. April 2001

Die holländische Entscheidung, die Euthanasie zu legalisieren, offenbart hierzulande einen eklatanten Gegensatz. Während Parteien, Ärzteverbände und Juristenvereinigungen das neue Gesetz der Nachbarn empört ablehnen, zeigen in Umfragen zwei Drittel der Bevölkerung Sympathie für die aktive Sterbehilfe. Ängstvoll fragen sich viele Patienten: Müssen sie am Lebensende sinnlose Schmerzen erleiden? Und wie behalten sie im modernen Medizinsystem die Kontrolle über ein menschenwürdiges Sterben? Eine klare Antwort erhalten sie von niemandem: Die Ärzte klammern sich oft an technisch Machbares, die Rechtslage ist umstritten (Seite 30), und auch eine Patientenverfugung hilft nur selten, wie das Schicksal von Walter K. zeigt

Im Zimmer riecht es nach Creme. Ein Radio spielt Klassik. Damit es nicht so still ist. Kann Walter K. die Musik hören? Er liegt unter einer Bettdecke, der Körper flach und hart wie ein Brett. Seine Fäuste stehen im 90-Grad-Winkel von den Armen ab. Zwischen den Fingern steckt ein Waschlappen, damit sich die Nägel nicht ins Fleisch graben. Die Nase ragt nach oben, den zahnlosen Mund hat Walter K. aufgerissen. Ein weißer Pelz bedeckt die Zunge. Mitunter stößt er röchelnd ein paar Laute aus. Wenn das Röcheln zum Brodeln wird, weiß die Schwester, dass sie Schleim absaugen muss.

Walter K.s Arme und Beine sind gelähmt, große Teile seines Gehirns sind zerstört. Nur ab und zu öffnet er die Augen und lässt sie in verschiedene Richtungen gleiten. Doch er atmet, und sein Herz schlägt langsam und gleichmäßig.

Schaltet man das Radio ab, hört man das Pumpen, das Walter K. am Leben hält. Über einen Schlauch drückt ein Motor Nahrung in seinen Körper. Eine milchkaffeebraune Masse fließt aus einem Beutel durch ein Loch in der Bauchdecke direkt in den Magen. Über einen zweiten Schlauch fließt Urin aus der Blase ab. 12 Kartons der kaffeebraunen Sondernahrungstehen im Schrank. Darüber liegen auf einem Bord fünf aufgeschnittene Polohemden. Sie sind das Einzige, was Walter K. noch braucht. Der Bürokalender neben dem Bett ist ohne Eintrag.

Walter K. hatte genaue Vorstellungen von den Dingen, den kleinen wie den großen. „Man muss aus seinem Leben etwas machen" hieß einer seiner Grundsätze. Eine gehobene Position in der Firma, 42 Ehejahre, vier Kinder, ein Haus mit Garten - Walter K. hat aus seinem Leben etwas gemacht. Als er vor fünf Jahren in Rente ging, wussten alle: Der bleibt jetzt nicht zu Hause sitzen. Jeden Morgen um sechs stand er auf und fuhr vor dem Frühstück mit seiner Frau zum Schwimmen. Zweimal im Jahr ging es in den Urlaub. Australien, Südafrika, USA, stets ohne Reisegruppe, alles minutiös geplant.

Ja, Walter K. war ein ordentlicher Mensch, der kluge Gedanken schätzte, Gefühlen misstrauisch gegenüberstand und nur ungern etwas dem Zufall überließ, im Leben wie im Sterben. Der Tod war ihm vertraut. Eine Freundin starb an Parkinson, eine Schwägerin an Krebs, die Schwiegermutter lag in den letzten Monaten ihres Sterbens im Koma. Seine eigene Mutter, ebenfalls von Krebs zerfressen, verbrachte ihre letzten Wochen nicht im Krankenhaus, sondern bei den K.s zu Hause.

Herr über seinen eigenen Tod zu sein, dieses Recht wollte auch Walter K. für sich in Anspruch nehmen. Deshalb verfasste er am 19. Februar 1999 eine Patientenverfügung und setzte seine Unterschrift unter folgende Sätze: „Für den Fall, dass ich unwiederbringlich nicht mehr in der Lage sein sollte, meinen Willen auszudrücken, verfuge ich im jetzigen Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, dass an mir keine sterbeverlängernden Maßnahmen durchgeführt bzw. bereits begonnene abgebrochen werden, sofern ich für den Rest meines Lebens unumkehrbar bewusstlos sein sollte." So hatte er es in der ZEIT gelesen.

Der Fall ereignete sich schneller als gedacht. Sechs Wochen danach, im Urlaub in Portugal, fand ihn seine Frau nachts auf dem Boden krabbeln und sich übergeben. Das Hotelpersonal dachte, er sei betrunken. Kurze Zeit später rührte er sich nicht mehr. Die Ärzte diagnostizierten eine Bewusslosigkeit als Folge einer Hirnhautentzündung. Doch die Patientenverfugung hat Walter K. bis heute nichts genutzt. Drei Prozesse wurden in der Sache K. gefiihrt. Vier medizinische Gutachten eingeholt. Walter K. aber darf nicht sterben.

Ehefrau Ellen K.

Am Anfang hatte sie noch Hoffnung. Ellen K. meinte, die deutschen Mediziner könnten mehr erreichen als ihre portugiesischen Kollegen. Nach ein paar Tagen nahm ihr ein Professor in der Universitätsklinik jede Hoffnung. Im Stehen zwischen Tür und Angel hob er ein paar Abbildungen des Gehirns ihres Mannes gegen das Licht, zeigte auf verschiedene dunkle Areale und sagte: „Das ist kaputt. Das ist kaputt. Das ist kaputt." Walter K. leide unter einem apallischen Syndrom, auch Wachkoma genannt. Er werde wohl niemals wieder aus seiner Bewussdosigkeit erwachen.

In den ersten Tagen im Krankenhaus war noch von Rehabilitation die Rede gewesen. Dann hieß es nur noch, man müsse ein Pflegeheim finden. Eine Schwester warnte Frau K.: Geben Sie Ihren Mann nicht ins Heim, sagte sie, Sie bekommen ihn nie wieder heraus. ,Wir hörten nicht auf ihren Rat. Das war unser größter Fehler."

Als Frau K. das Schreiben ihres Mannes vorlegte, sagten die Ärzte, es zähle in diesem Fall nicht. Walter K. sterbe schließlich nichat, sondern brauche nur künstiche Ernährung. Dafür brauchten sie die Erlaubnis, eine Magensonde legen zu dürfen. Und wenn ich mich weigere? fragte Ellen K. Dann wird er eben über die Nase ernährt, sagten die Arzte. Das sei das Gleiche. Die Antwort war falsch, aber Frau K. wusste es nicht und gab ihre Unterschrift. Es sollte nicht das einzige Mal bleiben, dass sie sich übergangen, entmündigt, bevormundet fühlte. Behandlungen ohne Zustimmung, falsche Abrechnungen, nicht weitergegebene Arztbriefe. Vor kurzem wurde Herrn K. ein Stoppelhaarschnitt verpasst, um das Haarewaschen zu erleichtern. „Er hätte das nie gewollt", sagt sie. Und wenn er wüsste, wie Schwestern ihm manchmal die Wange tätscheln, wie einem Kind, sagt sie und schüttelt sich: „Er hätte sich geekelt."

Stets waren die K.s auf Unabhängigkeit bedacht, weder lagen sie jemals im Krankenhaus noch standen sie vor Gericht. Doch nun musste Ellen K. erleben, wie Ärzte, Pfleger, Richter über das Schicksal ihres Mannes entschieden und seinen wichtigsten Wunsch ignorierten. „Er wollte nicht so dahinvegetieren und hat das schriftlich bezeugt. Warum akzeptiert das niemand? Wie ist das möglich in einem Rechtsstaat?"

Jeden zweiten Tag besucht Ellen K. ihren Mann im Heim. Sie streicht ihm kurz über das Gesicht, schlägt die Decke zurück und schaut, ob er sich durchgelegen hat. Dann geht sie wieder. Nicht ein Foto hat sie auf den Nachttisch gestellt, statt Blumen steht Plastik in der Vase. Am Anfang hatte sie ihm seine Musik vorgespielt: „Benny Goodman und solche Sachen." Und ihr Parfüm mitgebracht. Doch er reagierte nicht, ebenso wenig auf Rufen und Streicheln. Nun hält sie ihm manchmal kurz die Nase zu, damit er wenigstens irgendetwas macht. Dann seufzt er auf. Meist bleibt sie nur kurz, oft nicht länger als zehn oder zwanzig Minuten. Eine Kontrollvisite, kein Besuch bei dem Mann, den sie geliebt, bewundert hat und mit dem sie 40 Jahre lang das Leben teilte. Der ist irgendwann in jenen Tagen nach dem 8. April 1999 in Portugal verschwunden.

Nur trauern kann sie nicht. Dafür wird sie bei jedem Besuch an seinen letzten Wunsch erinnert. Wie einen lebenden Vorwurf sieht sie ihren Mann dort liegen, der zu sagen scheint: „Du kannst meinen letzten Willen nicht erfüllen." Mitunter fleht sie zurück: „Bitte höre auf zu atmen."

Heimschwester S.

Zuerst habe sie Frau K.s Wunsch, dass ihr Mann sterben soll, nicht verstanden, sagt Schwester S. Warum lässt sie ihren Mann nicht in Ruhe weiterleben, habe sie gedacht, und genauso dächten noch immer viele im Haus. Aber dann hat sie mit Frau K. gesprochen und sie verstanden. „Heute wünsehe ich es ihm, dass er sterben kann." Doch zu diesem Können dürfe das Heim nichts beitragen. Wir machen nur die Pflege." Walter K. wird wie im Lehrbuch gepflegt. Er liegt auf einer beweglichen Luftmatratze, die Druckstellen verhindern soll. Alle zwei Stunden kommt eine Schwester ins Zimmer und legt ihn auf die andere Seite. Jedes Umbetten bezeugt sie mit einer Unterschrift, damit sie es nicht vergisst. Zweimal am Tag wird Walter K. gewaschen. Alle sieben Tage gebadet. Alle drei Tage bekommt er ein neues Morphiumpflaster, dreimal am Tag Tee und SN, Sondennahrung. So steht es auf einer Karteikarte, die an dem Pumpengerät hängt. 6 Uhr SN, 10 Uhr Tee, 13 Uhr SN, 16 Uhr Tee, 19 Uhr SN, 22 Uhr Tee. Dann ist der Tag vorbei.

Patientenverfügung — das Wort steht blau markiert auf Walter K.s Akte, für jedermann gut sichtbar. Auch Heimbesitzerin M. hat eine solche Ver-ügung geschrieben. ,Wenn man das so sieht, dass die gar nichts zählt, wenn man sterben will", sagt ie. „Das ist schlimm. Aber wir dürfen nichts machen."

Zurzeit liegt eine alte Frau im Altenheim, die sich vorgenommen hat, zu sterben, erzählt Schwester S. Sie isst nicht mehr und trinkt nicht mehr. Man habe versucht, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Vergeblich. Sie wollte nicht mehr. Jetzt tupfen die Schwestern nur ab und zu den Mund etwas feucht ab. ,Wir respektieren ihren Willen." Und wenn nun die Nachricht komme, auch Walter K. brauche nicht mehr ernährt zu werden? „Dann können wir Herrn K. nicht hier behalten", sagt Schwester S. und schüttelt den Kopf. Jeden Tag gehen die Schwester ins Zimmer, waschen und betten ihn, und irgendwann heißt es, er soll verhungern? Das gehe schließlich nicht sofort, dauert eine Woche, vielleicht zwei. Aber es war doch sein Wille? „Ja, aber wir müssen uns selbst schützen, wir haben auch eine Seele." Frau K. hätte ihn gleich vorn Krankenhaus nach Hause holen sollen. Aber nun, da er mal da ist... . Wir sind nur die ausführenden Organe."

Hausärztin L.

„Herr K. kann noch viele Jahre leben", sagt die Hausärztin. Er habe ein gutes Herz und einen stabilen Kreislauf. Vor ein paar Jahren hätte ihm seine robuste Natur nur wenige Monate genutzt. Patienten im Koma wurden mit einem Schlauch über die Nase ernährt. Zwangsläufig gerieten Bakterien in den Körper, es kam zu Infektionen, Lungenentzündungen. „Herr K. wäre längst tot."

Eine PEG-Sonde dagegen, wie sie Herr K. trägt, arbeitet keimfrei und komplikationslos. Früher wurden die Sonden zur so genannten Percutanen Endoskopischen Gastrostomie (PEG) nur im Krankenhaus eingesetzt. Heute findet man PEG-Patienten in fast jedem Altenheim. Vor allem Demente lassen sich per PEG nahezu problemlos ernähren. Über Jahre. Rund 100 000 Patienten bekamen 1999 eine PEG gelegt, mehr als die Hälfte ohne ihre Einwilligung. Für viele Wachkomapatienten bedeutet die Magensonde einen medizinischen Fortschritt. Einige tausend Fälle zählt man in Deutschland, und vor einigen Jahren dachte man noch, sie wären lebende Tote ohne Aussicht auf Besserung. Heute weiß man es besser. In mühevoller Therapie - durch Berührungen, Ansprache, Musik — versucht man mit den Apallikern Kontakt aufzunehmen. Ihre Rehabilitation ist schwierig und dauert lange. Doch mitunter gelingt es, sie Stück für Stück ins Leben zurückzuholen. Fortschritte sind vor allem bei jungen Patienten möglich, die nach einem Unfall ins Koma gefallen sind und sogleich behandelt werden. Solchen Kranken die PEG-Sonde wegzunehmen, bezeichnen Angehörige und Ärzte daher auch als Mord.

Walter K. ist 70 und besitzt solche Chance nicht mehr. Das hat das Gutachten einer Rehaklinik für Wachkomapatienten bestätigt. Große Teil seines Gehirns seien erloschen, die Augenbewegungen bloße Reflexe. „Das Letzte, was wir ihn wünschen, wäre, dass sich sein Befinden etwas verbessert, sodass er selbst merkt, in welchem Zustand er ist", sagt der Neurologe.

Für Walter K. bedeutet die PEG-Sonde ein Verlängerung seines Sterbens. Auf eine maschinelle Beatmung darf der Arzt verzichten, wenn sie nur das Leiden verlängern würde. Eine künstliche Niere darf er abstellen, wenn der Patient sterbenskrank ist und keine Besserung in Sicht ist. Denn passiv Sterbehilfe ist erlaubt und wird jeden Tag praktiziert. Die Magensonde jedoch zählt laut den Richtlinien der Bundesärztekammer nicht zur intensiv medizinischen Behandlung. Sie ist Hilfe zur Ernährung und gehört damit zur Basispflege, wie Waschen oder Betten. Auf sie hat jeder Patient, egal in welchem Zustand, ein Recht - und eine Pflicht.

,Wer die PEG abstellt, lässt den Patienten verhungern", sagt die Hausärztin. Wenn Walter K. eine Lungenentzündung bekommt, könnte sie darauf verzichten, Antibiotika zu geben. Wenn die PEG kaputt geht, würde sie dafür kämpfen, das keine neue gelegt wird. Wollte sie jedoch die künstliche Ernährung abbrechen, hat sie Angst, sich strafbar zu machen. Was also müsste geschehen? Frau K. müsste ihren Mann nach Hause holen, sagt die Ärztin. „Stirbt Herr K. dort, würde ich einer Teufel tun, beim Ausstellen des Totenscheins irgendwelche Zweifel aufkommen zu lassen."

Richterin N.

Einmal hat Frau K. es versucht. Im Herbst 199S kündigte sie an, sie wolle ihren Mann von jetzt ai zu Hause pflegen. Da rief das Heim das Amtsge rieht an. Im Eilverfahren entzog die Richterin ihr die Betreuung für ihren Mann. Es war die gleiche Richterin, die sich kurz zuvor geweigert hatte, den Abbruch der künstlichen Ernährung zu genehmigen. ,Wer gibt mir das Recht, zu entscheiden, ob ein Mensch leben oder sterben soll?", hat sich Richterin N. damals gefragt und, wie es sich für eine Richterin gehört, ins Gesetz geschaut. Die Antwort, die sie fand, hieß: Niemand.

Andere Juristen sind zur gegenteiligen Meinung gekommen - zum Beispiel jene des Bundesgerichtshofs. 1994 hatte der BGH im so genannten Kemptener Urteil über einen ähnlichen Fall zu entscheiden. Ein Sohn wollte die künstliche Ernährung seiner schwer hirngeschädigten Mutter einstellen lassen und verständigte sich damals mit ihrem Arzt, der Frau nur noch Tee zu geben. Der BGH hielt das Ansinnen für rechtmäßig.

Eine Behandlung dürfe auch dann abgebrochen werden, wenn der unmittelbare Sterbevorgang noch nicht eingesetzt habe. Wichtig sei allein der Wille des Patienten. Mit aktiver Sterbehilfe habe das nichts zu tun. Das BGH ging noch einen Schritt weiter: Selbst wenn keine Patientenverfügung vorliege, sei etwa ein Abbruch der Ernährung möglich, wenn der Patient zu Lebzeiten Ähnliches geäußert habe. Zu prüfen habe dies das Gericht, das auch sonst für Vormundschaftsfragen zuständig ist, in der Regel das Amtsgericht eben.

Das Urteil und seine Begründung waren ein Fanal im ewigen Streit zwischen Selbstbestimmungsrecht des Patienten und dem unbedingten Wert des Lebens. In der Praxis jedoch änderte sich nichts. Bis heute hat nur das Amtsgericht Oberhausen ein einziges Mal den Abbruch einer künstlichen Ernährung genehmigt. In allen anderen Fällen verhielten sich die Richter wie Amtsrichterin N.: Sie erklärten sich für nicht zuständig. „Es ist nicht die Aufgabe des Gerichts, die letzte Schranke zu lösen."

Eine Rechtslücke also, die es im Interesse der Betroffenen zu schließen gilt, möchte man meinen. Doch davon will man beim zuständigen Ministerium in Berlin nichts wissen. Patienten hätten bereits heute das Verfügungsrecht über die letzte Phase ihres Lebens, sagt Justizministerin Herta Däubler-Gmelin. Was das Gesetz regeln müsste, sei geregelt. Die unausgesprochene Angst lautet: Jede Bestimmung, die explizit klärt, wer unter welchen Umständen über das Ende eines Lebens bestimmen darf, wäre ein Schritt in Richtung Holland. Gerichte, die nicht selbst die Entscheidung treffen müssen, sagen, man darf entscheiden; Gerichte, die entscheiden müssten, entgegnen, man dürfe es nicht; und die Politik behauptet, es gebe keine Probleme. Diese gegenseitige Blockade der Rechtsorgane scheint der Amtsrichterin N. jedoch nicht unrecht zu sein. Denn niemals könne man mit Sicherheit wissen, was Patienten wie Herr K. wirklich wollten. Als er die Patientenverfügung ausfüllte, sei er schließlich gesund gewesen. Außerdem lässt Walter K.s letzter Wille Raum für Interpretationen. Was heißt „sterbeverlängernde Maßnahmen"? Was meint er genau mit „unumkehrbar bewusstlos"? Die PEG-Sonde wird in der Verfügung nicht erwähnt. Vielleicht denkt er heute ganz anders darüber, vielleicht ist er ja glücklich", sagt Richterin N.

Wenn Frau K. solche Satze hört, hasst sie die Richterin.

Anwalt R.

Er hat den Fall Walter K. zur persönlichen Sache gemacht. Er hat medizinische Fachbücher gekauft, englische Aufsätze zu den Fortschritten der Neuromedizin kopiert. „Man sieht sich ja immer selbst da liegen", sagt Anwalt R. „Oder die Mutter oder den Vater."

Zwei vergebliche Verfahren hat er in der Sache K. angestrengt, erst vor dem Amtsgericht, dann vor dem Landgericht, das die Entscheidung der Richterin N. bestätigte. Er könnte in die nächsten Instanzen gehen, dort vielleicht ein Urteil erwirken, das beispielhaft ist und die Rechtsunklarheit beendet. Doch das hieße erneute Prüfungen, Anhörungen und Befragungen, weitere Gutachten. Zudem würde es bis zur Entscheidung Jahre dauern — ohne Garantie, dass die Richter in seinem Sinn entscheiden. „Wie Mediziner sind viele Richter verantwortungsscheu." Rechtsanwalt R. weiß das recht gut, denn er war 30 Jahre lang selbst einer.

Einen neuen Prozess will er Frau K. nicht zumuten. Stattdessen hofft er, die Sache „unauffällig zu lösen". Denn das Landgericht hat zwar das Urteil der Richterin N. bestätigt, Frau. K. jedoch wieder als Betreuerin eingesetzt. Sie sei am besten geeignet zu erwägen, heißt es in der Urteilsbegründung, ob es dem Willen ihres Mannes entspricht, die „künstliche Ernährung mittels Nahrungssonde einzustellen und ihn verhungern zu lassen." Ein Wink: Wir Richter können nicht entscheiden, die Ehefrau vielleicht. Anwalt R. hat sich erkundigt, wie so etwas in den meisten Fällen funktioniert. Die Ernährung wird langsam zurückgefahren, die Dosis Schmerzmittel erhöht. Nur ein Arzt muss mitspielen.

Vor kurzem wurde ein solcher Fall von dem Anwalt Wolfgang Putz erfolgreich durchgefochten. Ein Arzt hatte einer auf 26 Kilo abgemagerten Frau nach sechs Jahren Koma die PEG entfernt - im Einverständnis mit Angehörigen und Pflegeheim. Medikamente stellten die Frau schmerzfrei, nach sieben Tagen starb sie. Noch am Todestag erfolgte eine anonyme Anzeige. Doch die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren ein. Es habe sich nicht um eine Tötung gehandelt, so die Staatsanwaltschaft. Der Arzt habe nur dem Willen der Patientin entsprochen. Sein Handeln war nicht nur erlaubt, sondern geboten. ,Wir dürfen nicht fragen, ob wir aufhören dürfen, wir müssen fragen, ob wir weitermachen dürfen." So hat der Jurist Jochen Taupitz die Rechtslage auf dem Deutschen Juristentag des vergangenen Jahres zusammengefasst.

Die Debatte, ob man holländische Verhältnisse auch in Deutschland brauche, halten Juristen "wie Putz daher für überflüssig. Die Palliativmedizin und das deutsche Recht böten für alle denkbaren Fälle ethisch vertretbare Lösungen. Nur wissen es die wenigsten Ärzte, Pfleger, Patienten und Angehörigen - oder es fehlt ihnen der Mut. Auch Frau K. hat Angst und die Hausärztin ebenso. ,Wir werden beobachtet", sagt sie. Jemand könnte sie anzeigen. Eine Untersuchung würde folgen, eventuell ein Prozess. „Das stimmt", sagt Anwalt R. „Doch wahrscheinlich würde sie freigesprochen." Sicher wäre: Walter K. hätte seinen Willen.

Hoffnung für Patienten im Wachkoma

(kem) - „Hoffnung besteht für alle unsere Patienten", sagt Nicole Kohler vom Robert-Breuning-Stift, in dem es auch eine Wachkoma-Station gibt. Manche könnten nach der Reha sogar wieder sprechen oder im Rollstuhl sitzen. Nur ein Drittel aller momentan 23 Wachkoma-Patienten dämmerten schon so lange vor sich hin, dass die Chancen auf eine Genesung gering seien, sagt Nicole Kohler, Praxisanleiterin im Robert-Breuning-Stift. Dennoch mag sie nicht ausschließen, dass auch diese irgendwann aufwachen. Heißt: Kontakt zur Umwelt aufnehmen - sei es durch Sprache oder ein Augenblinzeln.

Die Patienten kommen immer dann ins Robert-Breuning-Stift, wenn sie die „Akut-Phase" überstanden haben. Das bedeutet, dass ein Ärzteteam im Krankenhaus die intensivmedizinische Behandlung bereits abgeschlossen hat, das Herz-Kreislauf-System stabil ist. Auf der Station läge allerdings „keine klassische Altenheimklientel", berichtet Kohler. Die meisten Patienten würden entweder nach einem Unfall, einem allergischen Schock oder einem Schlaganfall eingeliefert. „Der Jüngste auf der Station ist 25 Jahre alt", so Kohler.

Patientenverfügungen lägen nur bei einem Teil der zu Pflegenden vor. „Bei einem Unfall hat schließlich nicht jeder eine Verfügung in der Tasche", erklärt die Praxisanleiterin. Dann sei es normal, dass die Mediziner alles unternähmen, das Opfer zu retten.

Und selbst wenn eine Verfügung vor der Operation vorgelegt werde, sei diese rechtlich nicht unbedingt bindend. Denn Ärzte könnten sich im Gegenzug auf ihren hippokratischen Eid berufen.

aus LKZ

„Fall Schiavo unmöglich in Deutschland"

(kern) - Das Verhalten der Ärzte im Fall von Margarete Groche nennt Rechtsanwalt Dr. Günter Zecher „unglücklich". Gleichwohl hätten die Mediziner die grundsätzliche Verpflichtung, Leben zu retten. Zecher, auf Patientenverfügungen und Vorsorgeregelungen spezialisierter Anwalt, legt den Medizinern ans Herz, sich auch in Extremsituationen ausgiebig mit Angehörigen oder dem Willen des Patienten auseinander zu setzen. Trotzdem dürfe sich ein Arzt theoretisch über eine Patientenverfügung hinwegsetzen. In der Praxis werde dies allerdings kaum geschehen.

Zu Schwierigkeiten komme es meistens nur dann, wenn lebensverlängernde Einzelmaßnahmen in einer Patientenverfügung nicht exakt aufgelistet seien. „Es ist immer besser, wenn auf dem Dokument steht, was im Notfall unternommen werden darf und was nicht", sagt Zecher.

Jeder solle sich beispielsweise fragen, ob er schon die Dialyse oder erst die künstliche Ernährung als lebensverlängernd betrachte.

Der Fall Terri Schiavo - die Amerikanerin starb, nachdem die Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr über eine Sonde ausgesetzt worden war - wäre nach deutschem Recht nicht möglich, betont der Ludwigsburger mit Kanzlei in Ilsfeld. „Dazu hätte der Sterbevorgang bereits eingesetzt haben müssen", erklärt Zecher. Er kann sich aber durchaus vorstellen, dass die Rechtsprechung in der Bundesrepublik in dieser Hinsicht bald aufgelockert werde. Ihn hat bislang auch noch kein Angehöriger kontaktiert, um juristische Schritte einzuleiten, weil eine Patientenverfügung von Ärzten übergangen worden war.

aus LKZ

Nur noch „eine perfekt versorgte Hülle"

89-Jährige wird gegen ihren Willen mit lebensverrlängernden Maßnahmen behandelt

Margarete Groche wird nur durch künstliche Ernährung am Leben gehalten - gegen ihren Willen. Denn in einer Patientenverfügung hatte sie sich gegen lebensverlängernde Maßnahmen ausgesprochen. Die Ärzte legten ihr dennoch eine Magensonde. „Besteht keine realistische Aussicht auf Erhaltung eines erträglichen Lebens, möchte ich mein Leben in Würde vollenden", hatte Margarete Groche im Mai 2002 in einer Patientenverfügung festhalten lassen. Auf lebensverlängernde Maßnahmen sollten die Ärzte dann verzichten - taten sie aber nicht. Als die heute 89-Jährige im Mai 2003 nach einem Schlaganfall ins Koma gefallen war, versorgten die Ärzte in einer Klinik in Filderstadt Margarete Groche über einen Schlauch mit Nährstoffen, erzählt ihr Sohn Hartmut. Später legten die Mediziner ihr dann eine Magensonde, sagt der Bankdirektor verärgert. „Die Ärzte haben ein regelrechtes Horrorszenario darüber gezeichnet, wie meine Mutter leiden müsste, wenn sie weder Wasser, Medikamente noch Nahrung bekommt", so Hartmut Groche. Also habe er unter dem Druck der Mediziner und in der extremen Stresssituation seine Einwilligung zu den lebensverlängernden Maßnahmen gegeben.

Eine Entscheidung, die er und seine Frau Susanne Pfab-Groche heute zutiefst bereuen. „Meine Schwiegermutter kann das Haar ihrer Enkelkinder nicht mehr fühlen, sich nicht mehr kratzen, wenn es juckt und kein wohlriechendes Aroma mehr erschnuppern. Und dann behauptet George W. Bush zum Fall Terri Schiavo, sie habe ein Recht auf Leben", sagt Susanne Pfab-Groche. Sie hält es „für eine Perversion unserer Gesellschaft", dass ein solcher Aufwand für Todkranke betrieben werde - und versteht nicht, warum ihre Schwiegermutter so dahinsiechen müsse und nicht in Würde gehen dürfe. Mit „eine perfekt versorgte Hülle" beschreibt Pfab-Groche den Zustand ihrer Schwiegermutter. Den Pflegern im Kleeblatt-Heim in Affalterbach, in dem Margarethe Groche seit einigen Monaten untergebracht ist, macht das Ehepaar Groche dabei keinen Vorwurf.

Im Gegenteil: „Mit dem Heim und der Pflege dort sind wir absolut zufrieden", betont Hartmut Groche. Ihm fehlt hingegen das Verständnis dafür, „dass die Ärzte sterbenskranken alten Menschen eine Magensonde legen". Außerdem kritisiert er, von den Medizinern unter Druck gesetzt worden zu sein. Die Würde des Menschen rücke hinter die Frage des medizinisch Machbaren ins zweite Glied zurück. Doch was ist ein würdevolles Leben? Das müsse jeder selbst entscheiden, sagt Pfarrer Bernd Burgmaier von der evangelischen Friedenskirche in Bietigheim-Bissingen. Deshalb bezeichnet er sich als einen Verfechter von Patientenverfügungen. Darin sei eine klare Willensbekundung formuliert. Gleichzeitig hat der Pfarrer aber Verständnis für die Ärzte. „Auch die Kunst, mit moderner Medizin zu heilen, kann als von Gott gegeben interpretiert werden", betont er.

Christian Kempf

aus LKZ

Schwierige Lage, schwieriges Gesetz

In der Ausgabe vom 17. Oktober Ihrer Zeitung zitieren Sie die Bundesjustizministerin mit der Aussage, eine Debatte über das Thema „Aktive Sterbehilfe" entspreche in Deutschland nicht den Bedürfnissen der Menschen. Ich will Ihnen mal mein persönliches Schicksal schildern: Ich leide an den Folgen eines Schlaganfalls (1999) und einer inkompletten Querschnittslähmung (2004), bin amtlich 100 Prozent schwerbehindert, an den Rollstuhl gebunden, den ich aber wegen der geschädigten Beine und Arme kaum mit eigener Kraft, schon gar nicht außerhalb meiner Wohnung bewegen kann, bin auf eine Betreuung „rund um die Uhr" angewiesen, da ich mich weder selbständig waschen, an- oder auskleiden noch ohne Hilfe den Toilettengang absolvieren kann. Mit all diesen Handicaps und Defiziten kann ich leben, auch mit einem jahrzehntealten Diabetes und einem lästigen Dekubitus und mich darauf in einer mir, Gott sei Dank, gegebenen verständnisvollen Umgebung einstellen.

Was mir aber schier die Sinne raubt, sind irrsinnige neuropathische Schmerzen im ganzen Körper, tagsüber und vor allem nachts, und ständige Harnweginfekte. Die Medizin kommt an die Ursachen dieser Beschwerden nicht heran, kann nur Einfluß nehmen auf die Symptome im Rahmen einer Schmerztherapie mit Psychopharmaka, Morphinen oder - im Falle der Harnweginfekte - mit einer Dauerbehandlung mit Antibiotika. Aber was für Nebenwirkungen haben all diese Medikamente, die auf die Dauer auch noch abhängig machen? Benommenheit, Schläfrigkeit, Schwindel, Zittern, Unkonzentriert-heit, Verwirrtheit, nachlassende Aufmerksamkeit, Schwerfälligkeit, Reizbarkeit, Gedächtnisstörungen, Sprechschwierigkeiten, Übelkeit, Sehstörungen . . . nur um die häufigsten Nebenerscheinungen zu erwähnen; auf die Gefahr von Entgleisungen von Labor- und sonstigen Meßwerten wird hingewiesen und auf die Möglichkeit von gravierenden organischen Schäden. Natürlich kann man alle Nebenwirkungen wiederum medikamentös behandeln und die geschädigte Niere an ein Dialysegerät anschließen.

Aber was ist das für ein Leben?! „Satt und sauber" dahinzudämmern ... fünf, zehn oder fünfzehn Jahre lang, um dann irgendwann zu verenden. Ich bin siebzig Jahre alt, habe ein arbeitsreiches, erfolgreiches, erfülltes Berufsleben hinter mir, habe eine Fülle guter Erinnerungen an meinen bisherigen Lebensverlauf, einen großen Bekannten- und Freundeskreis, lebe mit meiner Korrespondenz und meinen geliebten Büchern, nehme teil - wenn auch nur rezeptiv - an allem, was in der Welt geschieht. Und das soll alles sukzessive in geistige Umnachtung verschwinden?'

Ich selber will aus freien Stücken über mein Leben entscheiden können und ausscheiden, wenn es mir unerträglich wird. Es gibt verfassungsmäßig ein Recht auf Leben, aber (noch?) keine Pflicht zu leben. Das wäre für mich ein Horror, inakzeptabel. Ich suchte eine Möglichkeit, in Würde und mit Anstand - auch aus Rücksicht auf meine Familie - mein Leben, wenn es denn sein muß, zu beenden, zu einem von mir gewählten Zeitpunkt. Diese Möglichkeit habe ich bei Dignitas (die im übrigen keinesfalls leichtfertig mit ihrem Hilfsangebot umgehen) gefunden. Seit ich die grundsätzliche Hilfszusage habe, lebe ich in großer Gelassenheit, Leichtigkeit und bringe mich mit großem Einsatz in verschiedene Therapien ein, um vielleicht doch die eine oder andere Fertigkeit wiederzugewinnen. Ein gesunder Mensch kann sich nicht vorstellen, welche Pein der ständige Gedanke an Freitod als einziger Ausweg aus einer unerträglichen Situation verursacht, er vergiftet den ganzen Körper und beherrscht alle Sinne, wenn eine Lösung nicht in Sicht ist.

Ich würde mir etwas mehr Sachlichkeit und Objektivität und eine sorgfältigere Behandlung dieses komplizierten und zugegebenermaßen heiklen Themas wünschen; vor allen Dingen erwarte ich das von der Legislativen. Ich weiß, daß das von mir für mich geforderte Recht auf Selbstverantwortung und Selbstbestimmung nicht dem vorherrschenden Zeitgeist in unserem Land entspricht und ein solches Anliegen auch höchst schwierig in eine Gesetzeslage umzusetzen wäre und dies für sicherlich gottlob nur eine kleinste Minderheit in unserem Land. Das Thema deswegen aber für tabu zu erklären oder als solches zu negieren ist unredlich.

Meinhard Carstensen, Hamburg

aus FAZ vom 1.11.05

Getötet werden statt Selbsttötung

Zur Diskussion über die aktive Sterbehilfe (zum Beispiel F.A.Z. vom 17. Oktober): Ich bin 91 Jahre alt und kenne viele alte Menschen, die mit unerträglichen Schmerzen leben und die lieber heute als morgen aus dem Leben scheiden möchten. Für mich grenzt es an einen Skandal, daß die Politik diesen bedauernswerten Menschen nicht längst einen Weg gezeigt hat, der zu einem schmerzlosen Abschied aus dem Leben führt. Die gleiche Gesellschaft, die es jungen Frauen erlaubt, keimendes Leben in ihrem Körper zu töten, versagt es alten, leidenden Menschen, ihr Leben zu beenden. Heute sterben deshalb mehr Menschen durch Selbsttötung (diffamierend „Selbstmord" genannt) als durch Verkehrsunfälle. Von den etwa 13 000 Menschen, die sich jährlich in Deutschland umbringen, sterben die meisten, weil sie ihre chronischen Schmerzen nicht ertragen können und wissen, daß es keine Besserung gibt.

Sicher wäre es ein guter Weg, leidenden, hoffnungslosen Menschen einen humanen Ausstieg aus dem Leben zu bieten. Wer nicht mehr leben kann oder will, dem sollte man den Ausweg der heimlichen Selbsttö tung durch humane Lösungen ersparen. Die segensreiche Hospizbewegung kann si cherlich manchen lebensmüden Menschen helfen. Wer aber diese Möglichkeit nicht nutzen möchte, dem sollte der Freitod nicht verwehrt werden. Warum wollen manche Moralprediger ausgerechnet alten, hilflo sen Menschen das Recht der Selbstbestim mung vorenthalten? In der Demokratie gibt es neben den Mehrheitsentscheidun gen auch den Minderheitenschutz. In der Frage der Sterbehilfe bestimmt im Grunde eine Minderheit, was die Mehrheit zu den ken, zu tun und zu unterlassen hat. Schlimm!

Gerhard Schröder, Kronberg/Taunus

aus FAZ vom 1.11.05

Ein Mann, der dringend sterben wollte

aus DIE ZEIT vom 27.10.2005

Ein Schlaganfall, eine Blutung im Stammhirn – zwei Jahre lang war Herr R. fast vollständig gelähmt. Andere Patienten kämpfen um ihr Leben, er kämpfte um seinen Tod

Von Frank Drieschner

Der Patient hatte sich seine Entscheidung gut überlegt. Nachdenken, das war das Einzige, was er noch konnte. »In Bezug auf den Suizidwunsch wurde der Patient befragt, wie viel Zeit er denn für die Realisierung seines Wunsches einzuräumen bereit sei«, notierte der Arzt. »Auf die Frage ›Eine Woche?‹ erfolgte promptes Kopfnicken, auf ›Zwei Wochen?‹ promptes Kopfnicken, auf ›Drei Wochen?‹ deutlich zögerndes Kopfnicken, auf ›Vier Wochen?‹ unzweifelhaft eindeutiges Kopfschütteln.« Außerdem registrierte der Arzt an dieser Stelle »ein bei aller eingeschränkten Beweglichkeit eindeutiges, flehendes Drängen mittels des rechtsseitigen mit geringer Kraft möglichen angedeutet ergreifenden und schüttelnden Händedrucks«.

Der Mann, der so dringend sterben wollte, hatte einen Schlaganfall erlitten. Eine Blutung im Stammhirn hatte ihn praktisch vollständig gelähmt. Den Kopf konnte er um »20–30 Grad nach rechts und je 10–20 Grad nach oben und unten« drehen, heißt es im Bericht des Arztes; der rechte Daumen war beweglich, das linke Auge ließ sich schließen und öffnen, das rechte stand immer offen. Menschen oder Dinge zu fixieren war ihm unmöglich, da seine Pupillen zitterten. Das Großhirn des Patienten aber war intakt; so war er bei vollem Bewusstsein im eigenen Körper eingeschlossen.

Locked-in-Syndrom: Alexandre Dumas hat dieses Krankheitsbild beschrieben, den »lebenden Leichnam« des Noitier de Villefort in der Geschichte des Grafen von Monte Christo. Aber erst die moderne Medizin mit ihren Methoden der künstlichen Ernährung hat aus einer qualvollen Art zu sterben eine qualvolle Art zu leben gemacht. Die Romangestalt Villefort wehrt Mordanschläge ab und stiftet eine Ehe; naheliegende Fragen zu den Körperfunktionen seiner Figur übergeht Autor Dumas gnädig. Im wirklichen Leben werden Locked-in-Patienten bisweilen so weit wiederhergestellt, dass sie Computer oder elektrische Rollstühle bedienen können. Manche können immerhin fernsehen. Es gibt, sehr selten, Verläufe, die einer Heilung nahe kommen. Und es gibt sogar den Fall einer britischen Patientin, die sechs Jahre lang bei vollem Bewusstsein für komatös gehalten und entsprechend behandelt wurde.

R. lebte seit zwei Jahren als »Eingeschlossener«. Eine nennenswerte Besserung, sagt sein Arzt, war praktisch ausgeschlossen. »Bei weiteren Besuchen nachdrückliche Bestätigung der Suizidabsicht«, notierte der Arzt. Und, wiederum einige Wochen darauf: »Verzweifeltes Drängen des Patienten auf eine Realisierung seines Lebensbeendigungswunsches.«

Wer darf sterben, wen darf man sterben lassen?

Von Zeit zu Zeit ruft diese Frage in Deutschland, nein, keine Debatte, eher eine Art öffentlicher Aufwallung hervor: im Frühjahr unter dem Eindruck des Prozesses um das Leben der US-amerikanischen Komapatientin Theresa Schiavo, gerade wieder, weil der Schweizer Sterbehilfeverein Dignitas angekündigt hat, in Hannover eine Niederlassung einzurichten (siehe Seite 5). Erkenntnisse haben diese Streitigkeiten bislang nicht zutage gefördert; sie dienen mehr der Bekräftigung ohnehin unverrückbarer Positionen als der Erörterung des Sachverhalts.

Neu ist diesmal immerhin, dass ein Politiker es wagt, öffentlich für Sterbehilfe einzutreten. »Der Staat hat den Wunsch eines Todkranken nach Hilfe beim Sterben uneingeschränkt zu respektieren«, sagte der Hamburger Justizsenator Roger Kusch (CDU) der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Ein Wagnis ist eine solche Meinungsäußerung, weil der Streit um das Ende des Lebens hierzulande allzu oft unter der Herrschaft eines allgegenwärtigen Faschismusverdachts geführt wird. Den CDU-Bundestagsabgeordneten Hubert Hüppe veranlasste sogar der Fall Schiavo, den der Rechtsstaat USA von Anfang bis Ende mit großer medizinischer und juristischer Sorgfalt behandelt hat, zu dem Vorwurf, hier gehe es um den »Einstieg in die Euthanasie schwerstbehinderter Menschen«.

Hunderttausende Menschen leben weiter – dank einer Magensonde

Weckt man damit nicht unbegründete Ängste, Herr Hüppe?

»Ich weiß nicht, ob diese Ängste unbegründet sind.«

Und meinen Sie mit Euthanasie, was die Nazis damit meinten, nämlich Mord?

»Es erschreckt mich schon, dass es so viele Parallelen gibt.«

Nämlich welche?

»Der Begriff des Gnadentods ist bei den Nazis immer mehr erweitert worden. Ich kann nicht völlig außer Acht lassen, dass dies eine Entwicklung war, die am Ursprung den Gedanken hatte, dass es unwertes Leben geben könnte.«

Wer Patienten auf eigenen Wunsch zu sterben gestattet, der bringt irgendwann auch Behinderte um? Eine ernsthafte Debatte über die Folgen des medizinischen Fortschritts fällt in Deutschland schwer. Im Fall der amerikanischen Komapatientin Schiavo lag das möglicherweise auch an der doppelten Illusion, es gehe nur um sehr wenige Menschen und diese könnten, was immer man mit ihnen anstelle, darunter nicht mehr leiden. Aber die entscheidende Frage betrifft eine große Zahl leidensfähiger und leidender Menschen: Was tun angesichts medizinischer Neuerungen, die keine Krankheiten heilen, aber natürliche Todesursachen eliminieren?

Wie Theresa Schiavo und der lebensmüde Locked-in-Patient verdanken allein in Deutschland Hunderttausende Menschen ihr Leben einer ziemlich trivialen Erfindung der achtziger Jahre, der so genannten PEG-Sonde. Sie wird durch die Bauchdecke in den Magen geführt und versorgt den Patienten mit Nahrung und Flüssigkeit. Bis zur Erfindung der PEG-Sonde war künstliche Ernährung eine heikle, unhygienische Angelegenheit, die nur zur Überbrückung von Krisensituationen taugte. Nun wurde es möglich, Menschen in den unterschiedlichsten Zuständen jahrzehntelang am Leben zu halten.

Die meisten PEG-Patienten sind bei vollem Bewusstsein. Andere sind bewusstlos wie Theresa Schiavo, dazu kommt die große Gruppe der Dementen in allen denkbaren Abstufungen des Dämmerns. Es gibt Patienten, die ihre Wünsche äußern können, andere, die es in der Vergangenheit getan haben, und solche, über deren mutmaßlichen Willen sich nur spekulieren lässt. Fast alle tragen die Sonden bis zu ihrem Tod. Gemeinsam ist ihnen, dass ihre Körper nicht durch Auszehrung geschwächt werden, auch dann nicht, wenn sie den Wunsch zu essen oder zu trinken längst nicht mehr verspüren, dass sie dank Antibiotika Infektionen in der Regel überstehen – und dass sie in einem Land leben, dessen Rechtsprechung den solchermaßen erschwerten natürlichen Tod gleichwohl für den einzig akzeptablen hält.

Patienten wie Herr R. sind zu totaler Untätigkeit verdammt

»Ich habe gleich gesagt, nehmen Sie das weg, mein Mann will das nicht«, sagt Frau R. Beweisen konnte sie das nicht, eine schriftliche Patientenverfügung hatte ihr Mann nicht verfasst. So kam es, dass R. vier Tage nach seinem Schlaganfall »nach komplikationsloser Anlage einer perkutanen Ernährungssonde« von der Intensivstation verlegt wurde, »in stabilem klinischen Befinden«, wie der ärztliche Bericht feststellt.

Inzwischen ist R. tot, man kann ihn nicht mehr fragen, wie es ihm in den folgenden Jahren ergangen ist. »Schlimm ist die Langeweile«, schrieb ein Mann, der ein knappes Vierteljahr als Eingeschlossener erlebt hat, ehe seine motorischen Fähigkeiten allmählich wieder zunahmen. »Der Locked-in-Patient ist zu totaler Untätigkeit verdammt. Eine der schlimmsten aller Strafen.«

Wenn Gegner der Sterbehilfe über den Wunsch zu sterben sprechen, pflegen sie die Alternative, nämlich weiterzuleben, als erfülltes oder jedenfalls gut erträgliches Dasein in der Obhut fachkundigen Pflegepersonals zu beschreiben. »Nicht durch die Hand eines anderen sollen die Menschen sterben, sondern an der Hand eines anderen«, warf Bundespräsident Horst Köhler gerade in die Debatte.

Die Wirklichkeit findet sich in den sachlichen Formulierungen des ersten repräsentativen Berichts über die deutschen Pflegeheime wieder, den die Krankenkassen vor einem Jahr vorgelegt haben. Seither weiß man, oder man kann es jedenfalls wissen, dass hierzulande jeder vierte Pflegeheimbewohner unzureichend vor Dekubitus geschützt wird, dem schmerzhaften Wundliegen, dass 120000 Menschen zu wenig Nahrung bekommen und mehr als 25000 Menschen als Folge der Vernachlässigung bereits gesundheitliche Schäden erlitten haben. Was der hilflose Locked-in-Patient R. in den folgenden Jahren erdulden musste, ist der normale deutsche Pflegealltag.

Für R. wurde das Liegen auf den immer gleichen Stellen, selbst bei regelmäßiger Umbettung schon eine Qual, durch die Nachlässigkeit des Pflegepersonals verschlimmert. Jeden Tag kam seine Frau in die Klinik, aber sie konnte nicht immer dort sein. »Wenn ich später wiederkam, lag er immer noch so da.« Niemand, der dem schwitzenden Patienten im Sommer eine dünnere Decke gegeben hätte. Niemand, der ihm den Schweiß von der Stirn wischte, damit er nicht in das ständig offene Auge floss. Niemand, der die Fliegen verscheuchte. Niemand, der das Radio abgestellt hätte, das die Putzfrau nach ihrer Arbeit einfach anließ. R. mochte Jazz und klassische Musik, die Putzfrau den Dudelsender WDR 4. »Das ist Folter«, sagt Frau R.

Dazu kamen die ständigen Erstickungsanfälle, weil der Speichel, den R. nicht mehr schlucken konnte, in seine Lunge floss und die Absaugeinrichtung nicht immer funktionierte. »Dann kam sein Auge fast aus dem Kopf«, sagt Frau R.

Hat es einen Sinn, ein solches Leben zu ertragen? Für R. nicht. »Mein Mann war Atheist, immer gewesen«, sagt seine Frau. »Ich auch.« Also sterben – aber wie?

Man täte Deutschland Unrecht, wollte man behaupten, dass es Menschen wie R. zwangsweise am Sterben hindere. Es gibt, jedenfalls theoretisch, zwei Auswege. Der eine, Suizid, ist für einen vollständig gelähmten Patienten praktisch nicht gangbar. Der andere ist die Verweigerung medizinischer Maßnahmen. Die Ernährung durch eine PEG-Sonde ist ein medizinischer Eingriff und darum nur mit Zustimmung des Patienten erlaubt. R. hätte darauf bestehen können zu verhungern oder zu verdursten, wobei es die Pflicht seiner Ärzte gewesen wäre, sein Leiden zu lindern.

R.s Arzt kennt sich mit den technischen Aspekten des selbstbestimmten Sterbens nach deutschem Recht aus. Er hat selbst Fachartikel über den Tod durch Flüssigkeitsentzug verfasst und eine Patientin, die diesen Ausweg gewählt hatte, im Sterben begleitet. »Ich konnte nicht mit letzter Sicherheit garantieren, dass er nicht leiden würde«, sagt er. Möglicherweise wäre ein solcher Tod für R. dennoch die bessere Wahl gewesen.

»Davor hatte er zu viel Angst«, sagt seine Frau.

R. hätte auch beschließen können, an einer Lungen- oder Harnwegsentzündung zu sterben, wie sie ihn von Zeit zu Zeit befielen. Dazu hätte er der Behandlung mit Antibiotika widersprechen müssen.

»Ich kann meinen Mann doch nicht an einer unbehandelten Lungenentzündung sterben lassen«, sagt seine Frau.

Im Fernsehen hatte sie einen Film über die niederländische Euthanasiepraxis gesehen. Ihr Sohn recherchierte im Internet und stieß auf die Schweiz mit ihrer Regelung für den begleiteten Freitod unter ärztlicher Aufsicht.

In Deutschland ruft die bloße Erwähnung des Sterbehilfevereins Dignitas gewöhnlich reflexhafte Ablehnung hervor. Dem Verein gehe es vor allem um »schnelles, effektives Sterben«, behauptete unlängst die niedersächsische Landesbischöfin Margot Käßmann.

R.s Ehefrau hat mit den Schweizer Suizidhelfern andere Erfahrungen gemacht. »Erst mal versuchen sie, einen davon abzubringen«, sagt sie. Der Schweizer Dignitas-Gründer, der Rechtsanwalt Ludwig Minelli, wurde in den folgenden Monaten ihr wichtigster Gesprächspartner. Jederzeit sei er für sie erreichbar gewesen, sagt Frau R., auch abends und am Wochenende. Und er habe darauf bestanden, mit ihr alle Alternativen zu einem Freitod ausführlich zu erörtern. Von Dignitas stammte auch das Formular für eine Patientenverfügung, die R.s Tod nach deutschem Reglement vorbereiten sollte, durch den Widerspruch gegen lebensverlängernde medizinische Behandlungen.

Aber R. hätte einen schnellen, schmerzlosen Tod unter Aufsicht eines Arztes vorgezogen. Und das ist mehr, als ein deutscher Patient verlangen darf.

Sogar das Recht, sich umzubringen, musste sich der eingeschlossene Patient R. erst erkämpfen. Zwar ist der Selbstmord und damit ebenso die Beihilfe zum Suizid auch in Deutschland straffrei – aber nur dann, wenn der Selbstmörder seinen Beschluss freiverantwortlich gefasst hat. Anderenfalls kann schon das bloße Geschehenlassen strafbar sein, wobei Ärzten und nahen Angehörigen besonders schwere Strafen drohen.

Ein Gutachter hatte R. ob seines Zustands kurzerhand eine »schwere geistige Behinderung« attestiert. Niemand, und am wenigsten ein Arzt, darf einem solchen Menschen gestatten, sich umzubringen. Frau R. gab ein Gegengutachten in Auftrag. Sie bestellte einen Notar ans Krankenbett. Hinterher hatte sie es schriftlich: »Nach Überzeugung des amtierenden Notars ist der Erschienene in der Lage, den Ausführungen zu folgen und die ihm gestellten Fragen hinsichtlich der nachfolgenden Patientenverfügung hinreichend zu beantworten.« Der erste Schritt war getan.

Mehr als 250 Deutsche sind in den vergangenen Jahren zum Sterben in die Schweiz gereist; schon ruft dieser »Sterbetourismus« dort Protest hervor, ein Grund, warum Dignitas nun auch in Deutschland arbeiten will.

Ein Problem blieb: Wie sollte der Gelähmte sich umbringen?

Für R., das war von vornherein klar, würde die Reise in die Schweiz eine Tortur werden. Einen Patienten, dem permanent der Speichel aus der Lunge gesaugt werden muss, kann man nicht mit einem einfachen Krankenwagen transportieren. R.s Glück war, dass seine ganze Familie sich um ihn kümmerte. Seine Tochter kannte einen Rettungssanitäter; er organisierte einen Notarztwagen.

Blieb ein Problem. Wie sollte der gelähmte Patient sich umbringen? Eine hohe Dosis Phenobarbitol bewirkt einen sanften Tod, die PEG-Sonde hätte das Gift in den Magen befördern können. Den Schalter aber musste R. selbst umlegen, auch in der Schweiz. »Zahlreiche Versuche der Ehefrau und beider erwachsener Kinder, eine Betätigung des Schalters der PEG-Pumpe mit der rechten Hand zu ermöglichen, scheiterten an der zu wenig kraftvollen, zu mangelhaft gezielten, zu hastigen Restbeweglichkeit«, notierte der Arzt.

»Er hat geübt, jeden Tag hat er geübt«, berichtet R.s Frau. Andere Patienten kämpfen um ihr Leben, R. kämpfte um seinen Tod. Und dieser Kampf war nicht aussichtslos. »Man hat das gemerkt, er konnte es schaffen.«

Für sie, das räumt Frau R. ohne Umstände ein, wäre der Tod ihres Mannes eine Erleichterung gewesen. Zwei Jahre lang hatte sie ihre gesamte Freizeit bei ihm verbracht und sich im Kampf mit dem Pflegepersonal aufgerieben. Sie ist darüber krank geworden, sie bekam einen Herzschrittmacher und entließ sich selbst aus der Klinik, um eher bei ihrem Mann sein zu können, den sie am liebsten keine Minute lang mit seinen Pflegern allein gelassen hätte.

Was für ein Kampf! In vielerlei Hinsicht standen R.s Chancen besser als die anderer Todeswilliger. Sein Arzt war auf seiner Seite. Seine ganze Familie kümmerte sich um ihn.

Am Ende hat R. seinen Kampf verloren. Die Reise in die Schweiz stand kurz bevor, als eine neuerliche Harnwegsinfektion ihm seine geringen Kräfte raubte. R. starb in einem katholischen Krankenhaus, in das er zum Schluss noch eingeliefert worden war, an den Folgen dieser Infektion und einer Lungenentzündung. Er war allein, als er starb, sein Tod muss schmerzhaft gewesen sein. Seine Frau wurde am folgenden Tag informiert.

Am Ende

aus DIE ZEIT vom 27.10.2005

Sterbehilfe ist längst akzeptiert, das Verbot lässt sich nicht halten

Von Wolfgang van den Daele

Die öffentliche Debatte, die in Deutschland über aktive Sterbehilfe geführt wird, ist soziologisch unterbelichtet. Politische Korrektheit verstellt den Blick auf die Tatsache, dass die Positionen der Entscheidungseliten sich immer stärker von den Wertvorstellungen der Bevölkerung entfernen. Während die Meinungsführer in Parlamenten, Parteien, Kirchen, Ärzteverbänden und Ethikkommissionen am Verbot der Tötung auf Verlangen ohne Abstriche festhalten, wächst in der Bevölkerung die Zustimmung dazu, dass kranke Menschen, die in aussichtsloser Lage den Tod herbeisehnen, ärztliche Hilfe zum Sterben in Anspruch nehmen können.

Die Zustimmung zu der Aussage »Ein schwer kranker Patient im Krankenhaus soll das Recht haben, den Tod zu wählen und zu verlangen, dass ein Arzt ihm eine todbringende Spritze gibt« ist zwischen 1973 und 2001 von 53 auf 64 Prozent gestiegen: Die Ablehnung hat sich fast halbiert von 33 auf 19 Prozent. Die Vorstellung, dass »ein Arzt einem unheilbar kranken Patienten auf dessen Verlangen hin ein tödliches Gift gibt«, empfanden zwischen 1990 und 2002 durchgehend knapp ein Drittel der Befragten als »sehr schlimm/ziemlich schlimm«, fast 70 Prozent dagegen »als weniger schlimm« oder »überhaupt nicht schlimm«. Danach würden etwa zwei Drittel der Bevölkerung aktive Sterbehilfe zumindest hinnehmen. Noch deutlicher ist die Ablehnung eines gesetzlichen Verbots der aktiven Sterbehilfe: 1990 waren zwei Drittel, 2000 fast drei Viertel der Befragten dagegen.

Es ist nicht zu erwarten, dass dieser Trend sich wieder umkehrt. Die Dynamik der Selbstbestimmung, die das Ethos moderner (westlicher) Lebensführung prägt, ist in unserer Gesellschaft ungebrochen. Davon zeugt etwa der gegenwärtige Wandel der Familienformen – von den Scheidungsraten bis zu den gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Auch für Entscheidungen am Lebensende wird Selbstbestimmung eingefordert. Zwar wird auch in modernen säkularisierten Gesellschaften Menschen nicht einfach die Möglichkeit gegeben, sich selbst aus beliebigen Gründen umzubringen. Vielmehr wird der moralische Respekt, der dem Wert menschlichen Lebens allgemein geschuldet wird, auch auf Respekt vor dem Leben ausgedehnt, das man selbst verkörpert. Aber dieser Respekt gibt im Urteil der Bevölkerung eben dann der Selbstbestimmung nach, wenn jemand an schwerer, nicht heilbarer Krankheit leidet. Nur 12 Prozent pochen auch in diesem Fall auf die Heiligkeit menschlichen Lebens und halten daran fest, dass dieses keinesfalls vorzeitig beendet werden darf, »auch wenn der Patient das ausdrücklich verlangt«. Dagegen finden 70 Prozent, ein schwer kranker Mensch sollte »selbst entscheiden können, ob er leben oder sterben möchte«. Diese Einschätzung teilt auch die große Mehrheit der kirchlich gebundenen Menschen: 60 Prozent der Protestanten, 68 Prozent der Katholiken.

In Deutschland ist gegenwärtig an eine Freigabe der aktiven Sterbehilfe nicht zu denken. Mit der historischen Erfahrung der Euthanasie-Verbrechen der Nazizeit im Hintergrund gilt es als ausgemacht, dass jede Ausnahme vom Verbot der Tötung auf Verlangen schließlich der Tötung unheilbar Kranker gegen ihren Willen Tür und Tor öffnen würde. Die Alternative, solche Ausnahmen eng zu begrenzen und strikt zu kontrollieren, steht nicht zur Diskussion. Wer es wagt, sie unter Berufung auf die Wertvorstellungen der Bevölkerung ins Spiel zu bringen, setzt sich dem Vorwurf des »Populismus« aus – was jüngst der Hamburger Justizsenator Roger Kusch erfahren hat.

Allerdings ist eine Gesetzgebung, die an den moralischen Wertungen relevanter Teile der Bevölkerung vorbeigeht, auf die Dauer prekär. Mit Ausweichmanövern muss gerechnet werden. Die Hoffnung, den Problemen dadurch zu entkommen, dass man dem Wunsch nach aktiver Sterbehilfe durch mehr Palliativmedizin und bessere Versorgung in den Pflegeheimen den Boden entzieht, wird sich kaum erfüllen. Kranke Menschen, die in aussichtsloser Lage sterben wollen, haben nicht nur Angst vor unstillbaren Schmerzen. Sie haben vor allem Angst, in einem Zustand von Hilflosigkeit und Gebrechlichkeit zu enden, in dem sie jede Selbstständigkeit und damit nach eigenem Urteil ihre Würde und Individualität verlieren.

Wer sich in Deutschland dieser Perspektive durch Selbsttötung entziehen will, hat das Beispiel von Nachbarländern (Niederlande, Belgien, Schweiz) vor Augen, in denen aktive Sterbehilfe und organisierte Beihilfe zur Selbsttötung kontrolliert freigegeben sind. Er kann sich also notfalls der restriktiven deutschen Gesetzgebung durch »Flucht« ins Ausland entziehen – und dabei mit der stillen Zustimmung der Mehrheit der Bevölkerung rechnen.

Wolfgang van den Daele ist Mitglied des Nationalen Ethikrates und Direktor der Abteilung »Zivilgesellschaft und transnationale Netzwerke« am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

„Vorher jage ich mir eine Kugel in den Kopf

Über Sterbehilfe theoretisch zu diskutieren ist das eine - Etwas völlig Anderes ist es, wenn das Thema ins eigene Leben eindringt

Eine unheilbare Krankheit macht einen Mann zum Krüppel. Der will sterben, und seine gesunde Frau mit ihm. Der Sohn soll das alles organisieren. Erinnerungen. Wir veröffentlichen sie auf Wunsch des Autors ohne die Nennung seines Namens.

Mein Vater war kein guter Telefonierer. Deshalb musste schon die Tatsache, dass er mich überhaupt im Büro anrief, als Alarmzeichen gelten. Dann diese leise, tastende, fast zittrige Stimme, die wenig mit dem zupackenden, oft autoritären Menschen zu tun hatte, den ich so gut kannte. „Ich habe einen Tumor im Gehirn", sagte er nach kurzer Vorrede. Im Urlaub zwei Wochen zuvor war meinem Vater unvermittelt der Löffel in die Suppe gefallen, weil seine Hand ihm nicht gehorchte. Wir telefonierten nicht lange. Ich packte meine Sachen und fuhr die 300 Kilometer nach Hause. Vieles ging mir durch den Kopf, aber abgesehen von dem Gefühl einer dunklen Bedrohung hatte ich noch keine Ahnung, was auf mich zukam.

In spätestens zwei Wochen müsse er operiert werden, sagte der Arzt im Krankenhaus, um ihm überhaupt noch ein wenig Zeit zu verschaffen. In Wahrheit hatte mein Vater gar keine Wahl. Er fühlte sich gesund, ja äußerst fit für seine 62 Jahre, er wollte leben. Selbst wenn ihm jemand die Hölle, die vor ihm lag, plastisch hätte beschreiben können, hätte seine Ehefrau, meine Mutter, ihm die Freiheit zu sterben verwehrt. Die beiden waren, befördert durch ein traditionelles Rollenbild, über Jahrzehnte miteinander verwachsen. Er war der allumfassende Ernährer und Schützer der Familie bis hin zum Schriftverkehr mit der Krankenkasse. Ein Leben ohne ihn gab es für sie nicht.

Zu meinen schlimmsten Erinnerungen aus jener Zeit gehört der erste Besuch nach der Operation auf der Intensivstation. Die Mediziner hatten meinem Vater den Schädel geöffnet und den Tumor herausgeschnitten. Dabei mussten sie auch ein Stück Gehirn mitentfernen. Welches Gehirnareal wie betroffen sein würde, war im Vorhinein schwer zu sagen. Es würde schon gut gehen, es musste gut gehen. Mediziner übertreiben gerne bei den Nebenwirkungen, um sich abzusichern. Wer kennt schon jemanden, der auf Grund einer Narkose stirbt?

Meinem Vater wurde die Lebensfreude herausgeschnitten. Seine linke Körperhälfte funktionierte nicht mehr. Die Gesichtszüge ließen sich nicht kontrollieren, er konnte nicht das Bett verlassen, geschweige denn stehen oder gehen oder mit Messer und Gabel essen. Der Tumor, den sie ihm entfernt hatten, war aggressiv. Er würde wiederkehren. 18 Monate noch, vielleicht. Nie vorher oder nachher habe ich eine solche Verzweiflung gesehen wie damals in den Augen meines Vaters. Nicht der bevorstehende Tod war das Grausamste, sondern dass ihm der Krebs das nahm, was er im Leben liebte. Seine Frau war nicht mehr sie selbst seit jenem Tag. Sie verzehrte sich vor Sorge, Angst und Mitleid. Sie konnte nachts nicht schlafen und tagsüber den Mühen des Alltags kaum etwas entgegensetzen. Mein Vater war ein leidenschaftlicher Naturmensch gewesen, Bergsteiger und Wanderer. Ließ das Wetter einen Ausflug gar nicht zu, pflegte er fast genauso leidenschaftlich sein zweites Hobby, die Schreinerei im Keller. Nun konnte er nicht mehr mit seinen Enkeln spielen, nicht mehr seinen sportlichen Wagen fahren, kein schönes Essen mehr genießen. Mein Vater hegte eine fast übertriebene Abneigung gegen Abhängigkeiten. Er war stolz, hasste es, Menschen verpflichtet zu sein, und pflegte sein Image als einsamer, durch die Wälder streifender Wolf. Jetzt konnte er sich nicht einmal mehr die Schnürsenkel binden. Er mochte keine Arztbesuche, keine Krankengymnastik und keine Pillen. Jetzt verging kein Tag mehr ohne medizinische Behandlung. Und dazu kam noch die Sorge um meine Mutter und die Angst vor dem Tod . Zu Hause rnachfe'Ser körperliche Zustand meines Vaters Fortschritte. Er konnte alleine aufstehen und ein paar Schritte gehen. Er konnte wieder sprechen und seinen Speichel kontrollieren, abefNjein LebensrfOit kehrte nicht zurück. Meine Mutter dagegen hätte auch in der Wüste auf einen Springbrunnen gewartet. So hoffte sie auf irgendeine Rettung, sei es durch ein Wunder oder ein neues Medikament, von dem sie im Krankenhaus gehört hatte. Er müsse nur durchhalten. Meine Schwester und ich standen irgendwo dazwischen. So absolvierte mein Vater die Strahlentherapie und die Chemotherapie, wurde wieder bettlägrig. Er verlor nun auch seine Haare. Dann lernte er wieder gehen.

Den Alltag mit einem todkranken Behinderten organisierten wir bald halbwegs erträglich. Jeder hatte seine Aufgaben. Mir war vor allem die Kommunikation mit den Ärzten zugefallen. Wir hatten Glück. Das behandelnde Krankenhaus, eine Spezialeinheit des Uniklinikums für Gehirntumoren, galt als einzigartig im weiten Umkreis. Ich fand sogar einen Arzt, mit dem ich von Mensch zu Mensch reden konnte. Lebensverlängernde Maßnahmen wurden ausgeschlossen, eine Patientenverfügung wurde veranlasse Nur das Wetter konnten wir nicht kontrollieren. Die sonnigen Tage waren die schlimmsten. Wortlos brütete mein Vater im Wohnzimmersessel. Selten wollte er hinaus, nur um sich zweihundert Meter die Straße hinauf- und hinunterzuquälen, immer in der Gefahr, die Kontrolle über sein linkes Bein zu verlieren und hinzuschlagen wie ein gefällter Baum. Wir redeten nicht viel miteinander in jener Zeit und kamen uns trotzdem nahe. Ich ahnte, was er litt, und konnte doch nichts anderes tun, als ihn mit leeren Worten zu trösten zu versuchen.

Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wann er mich darum bat, ihm beirrt Sterben zu helfen. Früher hatten wir öfter darüber gesprochen, keinesfalls an Apparaten enden zu wollen, mit Magensonden im Schlund. „Vorher jage ich mir eine Kugel durch den Kopf", pflegte er dann zu sagen - wie man das so sagt.

Jetzt konnte er sich nicht mehr selbst helfen. Sein Tumor wuchs wieder. Meine Mutter war zermürbt von der Pflege, dem Auf und Ab von Hoffnung und Enttäuschung durch die Therapien, der Düsternis meines Vaters und dem Schatten des Todes über dem Haus. Immer öfter wurde auch sie krank. Er hatte eine Entscheidung getroffen, er wollte wieder Herr der Lage werden. Dazu brauchte er mich. Ich sollte die Vorkehrungen treffen. Weder überraschte mich seine Bitte noch schockierte sie mich. Ich hatte auch keine moralischen Skrupel. Ich wusste, dass es das Richtige war, trotzdem schnürte mir Angst die Kehle zu. Ich würde mich nicht nur vor Gericht für eine Straftat verantworten müssen, sondern mir auch noch den Hass meiner Mutter zuziehen.

Denn mein Vater wollte sie nicht einbeziehen. In meiner Angst verfiel ich auf eine Idee, die ich auch heute noch nicht abschließend beurteilen kann. Ich übertrug meinem Vater die Verantwortung. Er solle so lange wie möglich durchhalten und dann den Zeitpunkt festlegen. Danach kaufte ich mir ein Buch über Selbstmord und entschied mich für die Methode Medikamentenmix plus Plastiktüte über den Kopf - man erstickt sozusagen sanft im Tiefschlaf. Einige Wochen später bat mich meine Mutter um Hilfe zum Selbstmord. Sollte mein Vater sterben, wollte sie nicht mehr leben, sagte sie. Ich wies ihr Ansinnen entrüstet zurück, und wir trennten uns im Streit, der lange unser Verhältnis beeinträchtigte. In meiner Not wandte ich mich an den Klinikumsarzt um Rat. „Wir können sie nur in eine geschlossene Anstalt einweisen lassen. Aber dazu würde ich Ihnen nicht raten. Sie ist schließlich eine erwachsene Frau", sagte der Arzt. Wir ließen den Dingen ihren Lauf.

Mein Vater fragte mich nie wieder. Er legte keinen Zeitpunkt fest. Er wusste um die Nöte seiner Familie. Wir spielten eine Art Todesmikado, und er lag ganz unten. 18 Monate nach der Diagnose wurde er wieder ins Krankenhaus eingeliefert, kurz vor Weihnachten. Der Tumor hatte seine alte Größe übertroffen. Unser letztes Gespräch drehte sich um meine Mutter. „Soll ich ihr noch irgendetwas sagen?" fragte ich ihn. „Es gibt nichts mehr zu sagen", entgegnete er. Einen Tag später fiel er ins Koma, zwei Wochen später starb er in unserem Beisein. Beinahe als Wunder muss gelten, wie meine Mutter sich von Stund an der Realität gestellt, sich aus ihrer Agonie befreit und ein neues Leben aufgebaut hat. Vor Kurzem, fünf Jahre nach dem Tod meines Vaters, habe ich das Selbstmordbuch in den Müll geworfen.

aus Stuttgarter Zeitung vom 19.11.2005

»Ich will nur fröhliche Musik«

Urban ist 46, ihn erwartet ein qualvoller Tod. Er wählt die Sterbehilfe und lässt sich nach Zürich fahren. In den letzten Stunden gibt er den Geschwistern Kraft und bittet sie, seine Geschichte aufzuschreiben

Von Bartholomäus Grill

Urban hoffte, der Herbstwind könne ihn mitnehmen
© Axel Nordmeier für DZ
Es ist der Moment, den die Mutter am meisten gefürchtet hat. Der Moment, der die Kraft einer jeden Mutter übersteigt. Gleich wird ihr Sohn aufstehen von dem Platz unter dem Kruzifix am Küchentisch, an dem er immer sitzt. Er wird zu ihr sagen: Du warst die beste Mutter der Welt, ich danke dir für alles. Aber jetzt muss ich gehen.

Dann tritt er zum letzten Mal aus der Küche mit dem böhmischen Gewölbe hinaus. Die Mutter begleitet ihn diesmal nicht. Zum ersten Mal bleibt sie sitzen auf dem Platz in der Küche, an dem sie immer sitzt, und hört seine Schritte im Hausflur verhallen.

Urban steht noch einen Augenblick in der Hofeinfahrt, ein warmer, bernsteingelb leuchtender Spätherbsttag. Er trägt seinen schwarzen Ledermantel, hat seine Sonnenbrille auf. Er schaut sich noch einmal um. Das Bauernhaus. Der Obstanger. Der Hühnerstall. Der Getreidespeicher mit dem leeren Storchennest auf dem Dachfirst. Dann steigt er ins Auto. Seine letzte Reise beginnt, die Reise in den Tod, von Oberbayern in die Schweiz, nach Zürich, zu den Sterbehelfern von Dignitas. Es ist 8.35 Uhr morgens, am 25. November 2004, als das Auto in die Bundesstraße 15 einbiegt. Urban weiß, dass er in ungefähr dreißig Stunden tot sein wird.


Der Tag, an dem er die Reise ohne Wiederkehr beschlossen hat, war der 30. Oktober. Er war mit seiner Schwester in Augsburg gewesen, bei einem Heilpraktiker, der mit biologischen Zytostatika arbeitet, mit »einzigartigen Mitteln«, wie er betonte. Aber nach einer dreistündigen Diskussion kapituliert er: Warum sind Sie mit ihrem Krebsleiden nicht viel eher gekommen? Jetzt ist die Heilung leider sehr unwahrscheinlich. Weil die Hoffnung, die der Mann noch machen konnte, so winzig war, hat Urban diese letzte Option verworfen. Auf der Heimfahrt packte ihn die Wut, er wäre beinahe aus dem fahrenden Auto gesprungen. Seine Schwester schrie ihn an. Sie kehrten ins Elternhaus zurück, und noch am selben Abend entschied er: Ich will nicht mehr.

Irgendwann im März hatte Urban zum ersten Mal von Sterbehilfe gesprochen, in Amerika wurden gerade die Apparate abgeschaltet, die Terri Schiavo fünfzehn Jahre lang im Wachkoma am Leben – oder am Sterben – gehalten hatten. Er sah die Demonstranten mit Schildern, auf denen »Mörder!« prangte. Das ist doch pervers, kommentierte Urban, jedes todkranke Tier wird eingeschläfert, bei Menschen ist es ein Verbrechen. Dass er selber schon bald in die Lage kommen würde, schnell sterben zu wollen, war ein fernes, unwirkliches Szenario. Urban war optimistisch. Natürlich würde er den verdammten Krebs besiegen.

Nach vier Gewebeproben steht der Befund fest

Keine fünf Monate später, im August, bittet Urban seinen älteren Bruder, Kontakt zu Dignitas aufzunehmen. Er studiert die postwendend aus Zürich zugesandten Unterlagen sehr gründlich. Menschenwürdig leben, menschenwürdig sterben – allein die Tatsache, dass dieser Notausgang offen steht, besänftigt ihn in seinem Zorn auf Gott und die Welt. Die Geschwister ängstigt er. Ein Schierlingsbecher für unseren Bruder, undenkbar, völlig ausgeschlossen.

Urban wird Mitglied bei Dignitas, nur wer Mitglied ist, kann die Dienstleistung der Organisation, den assistierten Suizid, in Anspruch nehmen. Er zahlt die Aufnahmegebühr und den Mindestjahresbeitrag, insgesamt 150 Franken.


Zu diesem Zeitpunkt hatte er die hoch dosierte Chemotherapie bereits abgebrochen, sie macht mich wahnsinnig, klagte er, ich bin kein Versuchskarnickel, ich bin ein Mensch, dem noch eine Freiheit geblieben ist, eine einzige: der begleitete Freitod. Helft mir, ich weiß, dass ich euch etwas Unmögliches abverlange. Was hätten ihm seine Geschwister entgegenhalten sollen, nach diesem Golgatha eines Krebskranken, das sie selber oft an den Rand der Verzweiflung getrieben hat?

Bei Forstinning fährt das Auto auf die A94, Urban verlässt den inneren Heimatkreis. Er wird begleitet von der Schwester, dem Bruder und Jo, einem engen Freund, der das Fahrzeug, einen Lieferwagen seiner Firma, für den Krankentransport behelfsmäßig umgerüstet hat. Alle hoffen, dass keine medizinischen Komplikationen während der Anfahrt auftreten. Urban wurde auf die Ladefläche gebettet, die Vorhänge sind zugezogen, er ist eingeschlummert.

Die Schwester, eine Arzthelferin von Beruf, hat alle nötigen Hilfsmittel eingepackt, Medikamente, Injektionskanülen, Messgeräte, Verbandsmaterial, eine Wärmflasche für die eisigen Füße. Sie betreut Urban seit neun Monaten mit schwesterlicher Hingabe, sie ist unglaublich stark, aber diese Reise wird am Ende auch ihre Kräfte aufzehren.

Es begann mit einem eitrigen Abszess am linken Zungenrand. Irgendeine Mundinfektion, glaubte Urban zunächst, aber der unheimliche Schmerz alarmierte ihn. Zahnarzt, HNO-Spezialist, Gewebeprobe, nach drei Tagen die Diagnose: pT3 pN0 G 2-3 R1 M0 Mundbodenkarzinom links. Zungenkrebs im fortgeschrittenen Stadium, Überlebenschance allerhöchstens 50 Prozent. Das war am 18. März 2004, zwei Tage nach seinem sechsundvierzigsten Geburtstag. Nach drei weiteren Biopsien ist der histologische Befund unumstößlich.

Das Atmen fällt immer schwerer, die Schmerzen werden zur Folter

Am 23. April die erste Operation im Universitätsklinikum München-Großhadern, langsame Rekonvaleszenz, dann eine arterielle Spritzblutung, Notoperation. Es war, als würde ich im eigenen Blut ersaufen, erzählt Urban auf der Intensivstation. Ab dann geht es allmählich aufwärts. »Am 24. Mai 2004 wurde eine Nachresektion durchgeführt. Der Tumor konnte in sano entfernt werden«, vermerkt das Datenblatt der Uniklinik. Erstaunliche Besserung, Urban kann wieder feste Nahrung zu sich nehmen.

Er geht mit den Geschwistern zum Essen, zu Roberto, seinem Italiener, und zwingt ein Zanderfilet hinunter, ganz langsam, Gabelspitze für Gabelspitze, es dauert fast eine Stunde, aber es klappt. Die Zuversicht ist zurückgekehrt.

München, Mittlerer Ring. Fließender Verkehr, der Lieferwagen kommt zügig voran.

Es ist Juni. Die Strahlentherapie in Traunstein beginnt, fünfzig Stunden bioelektrische Kanonade, Tag um Tag. Die dabei notwendige und unvermeidliche Zerstörung von gesundem Randgewebe führt zum Narbenzug und verursacht eine Kieferklemme. Der Mund kann nur noch zwei Millimeter weit geöffnet werden, das Essen wird zur Tortur. Urban ist dennoch guter Dinge, freut sich über die deutschen Goldmedaillen bei den Olympischen Sommerspielen in Athen, pflegt sich und schraubt den »Tannenbaum« zwischen seine Zähne, ein konisches Holzgewinde, das den gelähmten Kiefer allmählich wieder beweglich machen soll. Es klingt wie das Geräusch einer Laubsäge.

Am 30. September, nach einer der zahllosen onkologischen Nachuntersuchungen, erhält Urban die niederschmetternde Diagnose: Das Plattenepithelkarzinom wächst wieder, es verbreitet sich schneller als vorher. Der Tumor hat in kurzer Zeit einen Durchmesser von neun Zentimetern erreicht, er wuchert im Rachen- und Mundraum. Urban stürmt aus der Praxis seines Hausarztes in Rosenheim, rast durch die Stadt zu seiner Wohnung, die Schwester kann ihm kaum mehr folgen, aber die Angst, die Todesangst, holt ihn ein. In Urban verglimmt der letzte Hoffnungsfunke.

Der Geschmackssinn ist stumpf, alle Speisen und Getränke schmecken gleich, nach verrosteten Nägeln, sagt Urban. Er ist abgemagert bis auf die Knochen, 45 Kilogramm wiegt er noch. Das Atmen fällt ihm zusehends schwerer, das Tracheostoma, die künstliche Luftröhrenöffnung im Hals, läuft immerzu mit Schleim voll, nachts häufen sich Erstickungsanfälle. Die Sprache schwindet; sie verwandelt sich in ein röchelndes Hauchen. Und dieser rasende Schmerz, immer wilder, immer böser, es wird schwieriger, die Schmerzspitzen zu brechen. Das Geschwür foltert mich, sagt Urban, es wächst, es arbeitet, es frisst mich auf. Schau meinen Kopf an, meinen Totenschädel. Ich vegetiere nur noch. Wie ein Stück verwundetes Vieh. Er empfindet seinen Körper als Kerker. So will Urban nicht leben. So will er nicht sterben.

Die Ärzte empfehlen eine radikale Chemotherapie, um den Tumor schrumpfen zu lassen und einen neuerlichen chirurgischen Eingriff zu wagen. Urban beginnt die Therapie, schon am Tag darauf befallen ihn schwerste Depressionen und Angstzustände. Eines Morgens wacht er auf und fährt mit dem Finger über seine Oberlippe. Der Bart, auf den er so stolz war, löst sich ab, als hätte er mit Schmirgelpapier drübergewischt. Es reicht. Nach zwei Wochen bricht er die Chemotherapie ab.

Ein Freund hat die Adresse eines Geistheilers herausgefunden. Die Schwester ruft ihn an. Nein, meint der Quacksalber am Telefon, da könne auch er nichts mehr machen. Urban packt jetzt oft der blanke Zorn, er hadert mit seinem Schicksal. Warum ausgerechnet ich? Er will nach Zürich, so schnell wie möglich. Er telefoniert mit Ludwig Minelli, dem Generalsekretär von Dignitas.

A96, Autobahnraststätte Lechwiesen. Kurze Kaffeepause.

Urban schläft.

Diese ärgerlichen Strelitzien auf dem Fenstersims. Wie sie mit ihren zinnoberroten Kranichschnäbeln hereinhacken ins Krankenzimmer, Urban hasst sie. Dieses Wuchern und Wachsen und Blühen, während er innerlich verfault. Die Natur ist gnadenlos, sie ist ungerecht. Urban will die Blumen aus dem Fenster werfen.

Er liegt jetzt in der Kreisklinik Ebersberg, Station 1.1, Raum P 2, die Palliativabteilung am Ende einer öden Zimmerflucht. Krankenbett, Blechnachtschrank, Infusionsgalgen, Stehlampe, an der kaolinweißen Wand verwaschene Aquarelle, Voralpensommerlandschaft mit Zwiebelturm, das Übliche. Palliativ, das heißt sanftes, ummanteltes Abschiednehmen, der Finalpatient soll möglichst schmerzfrei hinübergleiten in den Tod. Aber dies ist kein Ort, der das Sterben verschönert. Obwohl sich die Schwestern und Ärzte enorme Mühe geben.

Urban kann nicht mehr essen, die wenigen Bissen, die er hinunterwürgt, kommen oft wieder hoch. Der Chefarzt schlägt eine PEG-Magensonde zur künstlichen Ernährung vor. Urban lehnt kategorisch ab. Schluss, aus, schimpft er, es ist ein Witz, die Ärzte haben genug an mir verdient. Die wollen doch nur das Leiden verlängern. In kürzer werdenden Intervallen bittet er um schmerzlindernde Injektionen. Auf dem Nachtschrank steht der Kapitän des Playmobil-Bootes, das ihm sein Patenkind gesandt hat. Das Männlein reißt die Arme hoch, als wäre es entsetzt.

Urban schwimmt durch Tage, die nicht enden wollen. Es ist still. Man hört nur die Natriumchlorid-Lösung leise aus dem Infusomat tropfen, das gedämpfte Verkehrsrauschen der B304, das Ticken des Sekundenzeigers auf der Armbanduhr. Die Kompresse über dem Tracheostoma wölbt sich im Atemrhythmus auf und nieder.

Dämmern. Schlafen. Albträumen.

Der Bruder verbringt einige Kliniknächte an seiner Seite. Weißt du noch, Tuzla, flüstert Urban. Daran habe ich auch gerade gedacht, erwidert der Bruder. Die erste große Liebe in Jugoslawien. Tuzla, der Krieg, die Grausamkeiten. Die Brüder müssen nicht viel reden, sie unterhalten sich in Gedanken. Sie verabschieden sich aus dem Paradies, in dem sie gemeinsam waren: aus der Kindheit.

Eines Nachts fährt Urban schreiend hoch. Ein Mann hat ihn im Traum angefallen und Fleischklumpen aus seinem Gesicht gebissen. Am anderen Morgen sagt er: Ich will heim. Vielleicht nimmt da der Horror ein Ende. Die Brüder eilen durch die lange Korridorflucht, neben dem Stationszimmer hat man zwei moribunde Greise abgestellt. Der eine rüttelt unablässig an seinem Stuhlgerüst, der andere presst eine Schnabeltasse an seine Lippen und scheint in der Bewegung erstarrt zu sein. »Weg von hier«, zischt Urban, »nur weg.«

Kilometer 166, Memmingen-Ost. Urban schläft immer noch. Die Schwester prüft Puls, Blutdruck, Temperatur. Sein Zustand ist stabil.

Urban liegt auf seinem Krankenlager im Schlafzimmer der Mutter, unter dem Bild mit dem flehenden Jesus auf dem Ölberg, genau gegenüber der Kammer, in der er im März 1958 auf die Welt kam. »Vielleicht kann ich da sterben, wo ich geboren wurde«, wünscht er sich. Daheim, im Elternhaus, verliert der Tod die Allmacht.

Die engsten Verwandten erfahren von seiner Entscheidung

Auf der Frisierkommode steht eine Batterie von Medikamenten: Oxygesic, Novalgin, Amitryptilin, Durogesic-Pflaster, Dromabinol, Morphin-Ampullen. Die Schwester setzt ihm morgens, mittags und abends und bei Bedarf auch nachts schmerzstillende Spritzen. Zusätzlich wird er durch einen ambulanten Pflegedienst versorgt. Die Mutter kümmert sich rund um die Uhr um ihn. Auch Tante Lisi ist da und heitert Urban mit ihrem kernigen Humor auf. Jeden Tag besuchen ihn Freunde und Freundinnen; den engsten Vertrauten teilt er seinen unumstößlichen Entschluss mit. Sie verlassen weinend das Zimmer. Aber keiner spricht dagegen, alle verstehen seinen letzten Willen, alle unterstützen ihn.

Es sind trübe Novembertage, dichter Nebel umflort den Hof, auf den abgeernteten Äckern hört man die Saatkrähen zanken. Die letzten Blätter schweben aus den Baumkronen. »Das passt«, sagt Urban. Soll man es Galgenhumor nennen? Dazwischen noch einmal ein paar sonnige Tage, es ist für die Jahreszeit viel zu warm. Die Mücken sind auch noch da. Sie traktieren Urban in der Dunkelheit, sie sirren und stechen und umschwirren ihn wie kleine nimmermüde Quälgeister.

Wieder eine furchtbare Nacht. Er träumt von Bomben, die auf seine Lieblingsstadt fallen, auf Dubrovnik. Die Adria verfärbt sich blutrot. Er schaut hinaus auf den Obstgarten. Der alte Birnbaum, dessen Stamm der Vater vor vierzig Jahren mit Mörtel verstärkt hat, weil er zu schwer trug und zerborsten wäre, steht und trägt immer noch. Der hat noch mehr Leben als ich, knurrt Urban. Die Geschwister reden oft über das Sterben und wie es wohl sein wird. Und über Schlafes Bruder, den Tod. Und über die schnellste aller Lösungen: Urban würde einfach in seinen weißen Mercedes C180 steigen, einen seiner Lieblingssongs – Slow down von Morcheeba – voll aufdrehen und gegen den nächsten Baum rasen. Aber alle Überlegungen münden immer wieder in den Plan, sich helfen zu lassen beim Freitod.

Er will kein Selbstmörder sein, er wählt den Freitod

Diese blöde Debatte, erbost sich Urban einmal. Unsere Geschichte, die Nazis, der millionenfache Judenmord, immer wieder die gleichen Totschlagsargumente, lächerlich sei das. Diese Menschen wurden bestialisch ermordet, ich treffe eine freie Entscheidung, ich habe doch ein Recht auf Selbstbestimmung, oder? Dass verbrecherische Euthanasie und humane Sterbehilfe in einem Atemzug genannt werden, empfindet er als Beleidigung.

Allein schon das Wort »Mord«. Urban möchte kein Selbstmörder sein. Er wählt den Freitod, weil ihm die unheilbare Krankheit keinen Ausweg mehr lässt. Er hat gute Gründe, er hat die besten Gründe. Und er fragt in den Debatten mit seinen Geschwistern oft: Warum gibt es diese Möglichkeit in Deutschland nicht? Warum bleibt aktive Sterbehilfe bei wirklich aussichtsslosen Fällen wie meinem verboten? Warum wird sie kriminalisiert? Seine Antwort: Weil die Ärzte und die Pfarrer und die Betschwestern Herr über Leben und Tod bleiben wollen. Gott hat das Leben gegeben, Gott hat es genommen, die Kirche, hör mir auf damit! Bruder, du musst mir versprechen, dass bei meiner Beerdigung kein Kirchenchor singt und kein Heuchler predigt. Ich will kubanische Musik, fröhliche Musik, und anschließend sollt ihr euch alle betrinken.

Aber die Möglichkeit der direkten Sterbehilfe gibt es in Deutschland nicht. Sie würde ihm die Reise in die Fremde ersparen. Das ist entwürdigend, sagt Urban. Könnte ich nur daheim sterben!

Leutkirch fliegt vorbei, der halbe Weg ist geschafft. Das Allgäu, samtgrüne Hügelwellen, im Süden zacken die Alpengipfel in den Himmel, sie sind zum Greifen nah. Urban wacht kurz auf, lächelt. Sagt zur Ermutigung seiner Begleiter: Alles klar?

Heute hat er auf wackligen Beinen das Haus verlassen, um noch einmal die Spuren der Kindheit nachzugehen. Die geheimen Schwammerlplätze im Wald. Das holzwurmzerfressene Bienenhaus. Das Bolzgeviert vor dem Stadel mit dem barocken Wandgemälde vom heiligen Sebastian, dem Märtyrer. Das Kinderzimmer, in dem sich die Brüder Wurfpfeile gegenseitig in ihre Betten nagelten. Er nimmt Abschied, seine Entscheidung ist gefallen, unwiderruflich, endgültig.

Für die Mutter und die Geschwister ist die Entscheidung noch nicht gefallen. Sie hoffen und beten. Dass er endlich sterben kann. Dass er friedlich einschläft. Dass er erlöst wird. Jeden Abend sitzen sie auf der Holzbank vor dem Haus, rauchen, reden, schweigen, schauen hinauf zum leeren Storchennest über dem Getreidespeicher. Und immer wieder werden sie zerrissen vom Zweifel. Natürlich wollen sie, dass ihr Bruder lebt, gesund wird, wieder lacht. Sie wollen das, weil sie ihn lieben. Und weil sie ihn lieben, wünschen sie ihm einen schnellen Tod. Urbans Schicksal hat die Familie zusammengeschweißt, die Mutter und ihre Kinder sind sich so nahe wie nie zuvor. Keiner empfindet die Intensivpflege als unzumutbare Last, sie ist beschwerlich und oft bedrückend, aber, sie wagen es kaum auszusprechen, auch beglückend.

Urban sagt: Nächsten Sonntag will ich in der Schweiz sterben.

Dignitas, das wäre die Ultima Ratio. Aber wie erklären die Geschwister das der Mutter? Sie ist gläubig, katholisch, und sie weiß noch nichts von den Diskussionen, die die Geschwister seit Wochen hinter vorgehaltener Hand führen. Sollen sie lügen, ihr eine wundersame Spezialklinik in Appenzell vorgaukeln? Nein, sie wollen diesen Weg ja selber nicht gehen, auf gar keinen Fall, sie halten nichts vom Sterbetourismus. Und so sitzen sie vor dem Haus, Abend für Abend, und ihre Worte und Gedanken drehen sich im Kreis. Immer wieder die gleichen Fragen, die gleiche Ratlosigkeit, das gleiche Dilemma.

Dürfen wir dem Drängen unseres Bruders nachgeben? Befinden wir uns im Sog einer Mitleidstötung? Erwartet ihn in Zürich wirklich ein menschenwürdiger Tod? Gibt es nicht doch noch Alternativen? Eine rettende Therapie? Ein schönes Hospiz? Mehr Morphium, noch viel mehr, so viel, dass ihr Bruder einfach fortschwebt? Sie erwägen in ihrer Gewissensnot sogar, Urban gemeinsam eine tödliche Spritze zu setzen und sich anschließend einzeln zu beschuldigen. Aber ein befreundeter Rechtsanwalt erklärt ihnen, dass unter Umständen dann jeder einzeln angeklagt werden könnte. Tatbestand: Tötung auf Verlangen. Oder gar: gemeinschaftlicher Totschlag.

Sie müssen doch etwas tun! Aber sie wissen nicht mehr, was sie tun sollen. Doch ein Hospiz? Kommt überhaupt nicht mehr infrage, blockt Urban ab. Er hat darüber gelesen, er kann nicht einmal die verlogene Sprache ertragen. »Lebenssattes Sterben« steht in einer Broschüre. So ein Schmarrn, sagt Urban. Er hat keinen Hunger mehr nach Leben, die sinnlose Quälerei möge endlich aufhören.

Urban ist euer geliebter Bruder, ihr könnt ihn doch nicht einfach abtransportieren in die Schweiz! Die Schwägerin bekommt einen Heulkrampf. Sie bittet, den Mann ihrer Schwester zu konsultieren, einen Internisten in Stuttgart. Der plädiert gegen die Sterbehilfe und für eine intensive Schmerztherapie in einem Hospiz. Der Vater des Internisten ist ganz anderer Ansicht. Auch er ist Arzt, und er hat ein Dutzend Finalpatienten nach Zürich begleitet, aussichtlose Fälle, alte, vereinsamte, todkranke Menschen. Der Sterbende, vor allem, wenn er jünger sei, habe eine Verantwortung gegenüber den Lebenden, wendet der Sohn ein, sein Abschied sei eine soziale Interaktion, er sterbe nicht allein. Es gibt ein Recht auf Leben, und es gibt ein Recht auf den Tod, entgegnet der alte Arzt. Es ist der Schlüsselsatz, den auch Urban oft wiederholt.

Er hat seine Angelegenheiten geordnet, ein Testament verfasst, von seinen Freunden, seinen Arbeitskollegen, seiner Stadt, seiner Wohnung mit dem Alpenblick, seinem glücklichen, aber viel zu kurzen Leben Abschied genommen. Urban hat mit allen und allem abgeschlossen. Er lässt los.

Die Familie beschließt, offen über das Tabu zu reden

Die Ärzte geben ihm noch zwischen zwei Wochen und sechs Monaten, es werden grausame Tage sein, und er wird vermutlich so sanft und schnell nicht einschlafen können, in seinem Körper tobt ein Krieg, sein Herz ist stark, die Konstitution immer noch passabel, er war ein ausgezeichneter Skifahrer und Fußballer. Er trägt auch im Krankenbett sein kanariengelbes Trikot mit der Nummer 10, Ronaldo, Brazil. Macht euch keine Sorgen, wir fahren nach Zürich, tröstet Urban. Ihn beschleichen keine Zweifel mehr, obwohl auch er sich nach einem anderen Ende sehnt. Dann redet er vom Wind. Er mag die Herbstböen, die nachts von der Wetterseite über den Hof fegen. Er will mitfliegen, über den Eichensaum des Waldes hinauf zu den Wolken und hinaus ins ewige Nichts. Er glaubt nicht an ein Leben im Jenseits.

Wangen. Die Entfernung wächst. Oder schrumpft sie? Ein Countdown in den Tod, denkt sich der Bruder, als er auf den Tageskilometerzähler schaut.

Wieder ein grauer, trübseliger Tag, der Nebel ist zur Mittagsstunde noch nicht gewichen. Urban, die Mutter und der Bruder stehen auf dem neuen Friedhof, sie müssen eine Grabstelle auswählen. Eigentlich will Urban, dass seine Asche ins Meer gestreut wird oder in den Zürichsee. Aber das wäre unerträglich für die Mutter, die Urban inzwischen über sein Vorhaben aufgeklärt hat. Es ist schwer genug für sie, dass sie ihr zweites Kind widerstandslos in die Hände des Todes legen soll und dass es schon bald hier ganz allein ruhen wird. Willst du dich nicht doch lieber zu Vater legen? Fragt die Mutter. Sie gehen hinunter zum Familiengrab direkt an der Südpforte der Pfarrkirche. Urban schaut durch den marmornen Grabstein hindurch und murmelt: Ja, ich lege mich neben Pa.

Aber das ist nicht so ohne weiteres möglich. Denn im aufgelassenen Gottesacker darf keiner mehr beigesetzt werden, er sinkt ab und ist überfüllt, deshalb hat man einen neuen angelegt. Ob es noch Ausnahmen gibt? Der Bruder verhandelt im Rathaus. Wann? Wie? Um wen handelt es sich denn da? Der Gemeindesekretär fährt alle Antennen aus. Wie soll ich das erklären, grübelt der Bruder, und er hört schon die boshafen Gerüchte brodeln, das übel wollende Volksraunen in einem erzkatholischen Sprengel. Aber seine Familie hat beschlossen, das Tabu zu brechen und offen zu reden. Urban bekommt den Liegeplatz neben seinem Vater. Weil er keine eigene Familie hat. Nach ihm darf niemand mehr ins Familiengrab. Außer der Mutter.

Ein Cappuccino beim Abschied von den Freunden

Rückfahrt zum Elternhaus, vorbei an der alten Schule, am geschlossenen Kramerladen, am Dorfwirt, am fichtenumwachsenen Feldkreuz des Nachbarbauern. Es ist wie eine Fahrt in der Zeitmaschine, meint Urban, das da draußen gibt es alles nicht mehr. Wenn er jetzt einen Wunsch frei hätte! Er sieht sich im Biergarten unter rosa blühenden Kastanien sitzen, eine Radlermass trinken und eine Semmel mit Leberkäse verspeisen. Einmal noch normal essen, einmal noch schmecken, Leberkäse. Und eine Essiggurke dazu.

Wieder sitzen die Geschwister auf der Hausbank. Der steife Westwind peitscht Nieselregen durch die kahlen Kirschbäume an der Abseite des Hofes. Ihren Bruder nimmt er nicht mit.

Unterdessen hat Urban Dignitas schriftlich um Sterbebegleitung gebeten. Die Familie hofft, dass ihn die Antwort aus Zürich nicht erreicht, heute nicht und morgen nicht und nicht übermorgen. Dass sie nie ankommen möge. Dass Urban Zeit zum natürlichen Sterben geschenkt wird. Er aber fragt jeden Morgen: Ist die Nachricht da? Habe ich einen Termin? Am 5. November trifft der Brief von Herrn Minelli ein. Dignitas teilt mit: Ihr Gesuch wird von einem unserer Ärzte geprüft, das »provisorische grüne Licht« folgt innert kürzester Zeit, bitte senden Sie umgehend Geburtsurkunde, Meldebescheinigung, Ledigkeitsnachweis und Patientenverfügung.

Lindau. Die Passage bis zum Bodensee verläuft ohne Zwischenfälle. Hinter Bregenz verpasst Jo die Ausfahrt hinüber in die Schweiz, ein nervenraubender Umweg. Endlich, der Grenzübergang Diepoldsau. Die Zöllner winken den Lieferwagen durch, keiner will einen Blick hinter die zugezogenen Vorhänge werfen. Nach der Rheinbrücke biegen sie in die Autobahn A13 ein, von da an geht’s ganz schnell. Rorschach, Wil, Winterthur, Zürich. Der See schillert wie Quecksilber.

Am Abend vor der Abfahrt in die Schweiz hat Urban alle Freunde und Freundinnen zu einer Abschiedsfeier mit Cappuccino eingeladen. Für ihn ist es zugleich eine Generalprobe. Er hat oft geübt, ein Glas Wasser oder eine Tasse Tee in einem Zug zu trinken, und oft bekam er dabei Würgeanfälle und die Flüssigkeit quoll schäumend aus seinem Tracheostoma im Hals. Er will sicher gehen, dass er das tödliche Schlafmittel restlos hinunterschluckt, er will in Zürich nicht wieder aufwachen oder in ein Wachkoma sinken oder hirntot weitervegetieren. Die Ärzte müssten ihn nämlich zurückholen, wenn der Exitus nicht eintritt. Es ist der einzige Unsicherheitsfaktor. Das Restrisiko.

Die Freunde umlagern sein Bett, trinken Kaffee, hören Musik. Es wird viel gescherzt und gelacht, die Stimmung ist unbeschreiblich, eine Art traurige Fröhlichkeit, wenn es so etwas gibt. Sie sausen durch eine Achterbahn der Gefühle, und ganz vorn sitzt Urban, heiter, gleichmütig, getragen von jener unerschütterlichen Seelenkraft, mit der er alle auf seinem Weg mitnimmt. Und Tante Lisi erweist sich mit ihren Geschichten als Lehrerin der Ars Moriendi, der Kunst des Sterbens. Meine Güte, seufzt sie, die Jungen müssen gehen, wir Alten müssen bleiben und sind doch zu nichts mehr nütze. Wenn wir uns doch wenigstens in einen Kleiderkasten verwandeln könnten!

Ein Freund fragt ihn noch einmal.

Bist du dir sicher?

Hundert Prozent!

Da ist kein Zögern und Zaudern, kein Spiel mit dem Tod.

Die Villa ist nicht einfach zu finden. Nach Zürich hinein, durch die Innenstadt, auf der anderen Seite hinaus, dann über den Berg hinauf nach Forch, Kilometer 385, 15.30 Uhr. Am Ziel.

Ludwig Minelli öffnet die Haustür. Ein viriler, 73 Jahre alter Herr, schwarzes Seidenhalstuch, federnder Gang. Er redet sachlich und konzis, keine Kraftsprüche, Freitodbegleitungsroutine. Urban findet seine Teekannensammlung witzig. Und auch zum Arzt, der bei dieser finalen Besprechung zugegen ist, fasst er gleich Vertrauen. Das ist nach seinem Kreuzweg keineswegs selbstverständlich, denn er hat sie gründlich kennen gelernt, die Mediziner in Deutschland. Da war dieser emotionslose Chirurg, der ihn in München-Großhadern operiert hat und der ihm, als er ihn um eine Prognose bat, kühl beschied: Von mir bekommen Sie keine geschriebene Zeile, ich weiß schon, was Sie vorhaben. Da war der Hausarzt in Rosenheim, ein besonnener und aufrichtiger Mann, den Urban mehr schätzte als alle anderen, die an ihm herumdokterten.

Ausgerechnet er konnte nicht zum Hausbesuch kommen, das 35 Kilometer entfernte Elternhaus liegt außerhalb seiner Zone. Da war der Hausarzt der Cousine, eher ein Gegner der Sterbehilfe, aber ein außergewöhnlich einfühlsamer Vertreter seiner Zunft, der die Entscheidung Urbans nicht billigte, aber angesichts seiner aussichtslosen Lage durchaus nachvollziehen konnte.

Da war der Palliativmediziner in der Klinik von Ebersberg, auch er ein unaufgeregter, nachdenklicher Zeitgenosse, ein Glücksfall für todgeweihte Patienten. Da war die Hausärztin der Mutter, die einen Krankenbesuch ablehnte und sich weigerte, weiterhin Morphin zu verordnen. Ihr Bruder wird die Mengen, die Sie spritzen, nicht überleben, rügte sie die Schwester. Die wie ein Schulmädchen abgekanzelte Arzthelferin irritiert das bis heute. Nicht nur, weil sie auf dreizehn Jahre Berufserfahrung zurückblickt, sondern weil die erhöhte Dosis angesichts der unsäglichen Pein von einer Expertin empfohlen worden war, von Krankenschwester S., die im Dachgeschoss des Elternhauses zur Miete wohnt und Urban auf seinem Leidensweg engagiert begleitet hat – sie ist Einsatzleiterin eines Hospizvereins.

Und da war schließlich der Dorfarzt, der, um es freundlich auszudrücken, nicht kooperativ war. Die Schwester wollte, dem Rat eines Onkologen folgend, über ihn Cannabisöl besorgen, das ist hochwirksam gegen Panikattacken und pendelt das psychische Gleichgewicht ein. Aber dieses Medikament fällt unter das Betäubungsmittelgesetz, und in den Ohren eines Landarztes tönt sein Name offenbar nach Haschsucht. Die Schwester war zu ihm gegangen, weil er die nächstgelegene Praxis führt, das hätte Zeit und Geld gespart. Der Dorfarzt aber sagte nein. Warum? »Ich bin doch nicht Ihr Ausputzer!«

Aber das ist jetzt alles nicht mehr wichtig. Urban erhebt sich aus dem tiefen Sofa in Minellis Kaminzimmer. Er kennt nun das Procedere, durch das er morgen hindurchmuss, bis ins kleinste Detail. Noch eine Nacht leben. Nur noch eine Nacht sterben.

Hotel Goldener Brunnen, Rotachstraße 33. Eine düstere Absteige, unten, in der Kneipe, abgerissene Gestalten, ein fettleibiger Mann mit Edelweißhosenträgern, der Kellner aus Sri Lanka im verspeckten Kittel. Warum muss die von Dignitas empfohlene letzte Unterkunft so schäbig sein, fragt die Schwester. Offenbar, weil hier niemand dumme Fragen stellt. Die Gäste – Trinker, Junkies, Abgestürzte – sind in ihrem eigenen Elend versunken. Die Rezeptionistin ist nett und diskret, sie kommt aus Zypern, ihr Vater starb an Kehlkopfkrebs, erzählt sie. Auch sie bohrt nicht nach. Sie weiß, worum es geht.

Der Diakon lehnt Sterbehilfe ab, er leistet dennoch geistlichen Beistand

Zimmer Nummer 15, braune, abgestoßene Möbel, im Teppich Brandspuren von Zigarettenkippen, das Wandbild zeigt eine laszive Frau mit weißer Katze. Um acht Uhr abends schrillt das Handy. Dignitas meldet sich. Wann soll morgen die Begleitung stattfinden? – Zum spätestmöglichen Zeitpunkt, bittet die Schwester. 14 Uhr? Ja, okay.

Die Geschwister halten sich an den Händen. Sie liegen nebeneinander auf dem durchgelegenen Doppelbett, schauen zur Decke oder in den duffen Wandspiegel, schweigen, lachen, weinen, erzählen sich Anekdoten aus der Kindheit. Urban liegt bis vier Uhr morgens wach. Er ist vollkommen ruhig, gefasst.

Das letzte Frühstück, Kaffee, ein paar Löffel Eigelb.

Willst du noch an den See? Einen Cappuccino trinken?, fragt die Schwester. Nein, wozu?, antwortet Urban.

Er durchschläft den Morgen. Die Schwester und der Freund gehen abwechselnd spazieren, der Bruder stolpert wie von Sinnen durch die Gassen.

Um die Mittagszeit will Urban doch noch etwas trinken, einen Campari Orange. Noch eine allerletzte Schluckübung. Danach schlummert er wieder ein.

13.55 Uhr, Gertrudstraße 84. Herr W., ein Theologiestudent, der Urban in den letzten Lebensminuten begleiten wird, hat den Schlüssel zur Sterbewohnung vergessen, und das Gift ist auch noch nicht da. Eine ungeheuerliche Schlamperei, das Sterben geht weiter, der Tod muss aufgeschoben werden. Diese Angst, flüstert die Schwester, als ob mich ein Kran 300 Meter in die Höhe gezogen hätte. Die Geschwister sind fassungslos, aufgewühlt, am Rande des Verzagens. Sie halten sich fest am unerschütterlichen Gleichmut ihres Bruders. Er lehnt am Auto und blinzelt in das schwache Licht der Novembersonne. Was bedeuten schon sechzig Minuten mehr oder weniger Leben und Leiden? Er bündelt den versiegenden Rest seiner Lebensenergie fürs Sterben.

Daheim, in der Küche des Elternhauses, haben sich zur Todesstunde die Mutter und die nächsten Verwandten versammelt, um gemeinsam mit dem katholischen Diakon einen Rosenkranz zu beten. Auch er verwirft, wie es das Dogma befiehlt, jede Form der Sterbehilfe, es ist eine Todsünde. Doch er verteufelt Urbans Entscheidung nicht und tut, was ein wahrer Seelsorger tut: geistlichen Beistand leisten. Der Barmherzigkeit ist Zürich näher als der Vatikan.

Nach einer halben Ewigkeit öffnet sich die Tür. Im Vorraum hängt eine Karikatur, darauf ist ein Männlein zu sehen. Es steht auf einem Berggipfel und hält ein Giftfläschchen in der Hand. Im Tal locken die Diener der Apparatemedizin mit frischen Organen, Niere, Leber, Herz. Das Sterbezimmer ist vielleicht zwanzig Quadratmeter groß. Sessel, Nachtkästchen, fünf Stühle, ein runder Tisch mit granatroter Decke, Kerzen, eine welke Rose, an der Stirnwand ein Ölbild. Eine Frau im roten Gewand, den Rücken dem Betrachter zugekehrt, hat sich auf ihre Arme gelehnt und starrt in den Urwald. Neben dem Kassettenrekorder liegt eine CD, Vivaldi, Die vier Jahreszeiten. Auf einem Dreifuß in der Ecke surrt die Videokamera, alles, was nun geschieht, wird aufgezeichnet, zur juristischen Absicherung.

Die Schwester öffnet das Fenster, damit die Seele hinausfliegen kann

Ludwig Minelli tritt ein. Er vergewissert sich noch einmal, ob der Patient im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte ist. Urban ist vollkommen klar im Kopf, schon vor Stunden hat er das Morphium abgesetzt, der Schmerz quält ihn nicht mehr, sein Körper gleitet an der Schwelle des Todes in eine betäubende Agonie. Wenn einer in der Entscheidungskette ein ungutes Gefühl hat, dann wird dieser Prozess abgebrochen, erklärt der Jurist Minelli. Er öffnet einen Notausgang, man kann jetzt noch umkehren, es ist nicht zu spät.

Aber Urban will nicht umkehren, er möchte sich erlösen, jetzt gleich. Er hat nicht mehr die Kraft, die Einwilligung in die Sterbebegleitung durchzulesen, die Schwester liest sie ihm laut und deutlich vor. Er nickt. Unterschreibt. Schickt seinen zitternden Bruder und seinen Freund hinaus. Er entlässt sie, weil er spürt, dass sie es nicht ertragen werden.

Nur noch die Schwester und der Theologiestudent sind im Raum. Urban setzt sich auf die Bettkante, Herr W. streut das Schlafmittel in das Wasserglas, 15 Gramm Natrium-Pentobarbital, eine letale Dosis. Urban nimmt das Gefäß mit zitternder Hand, führt es zum Mund, leert es in drei, vier kräftigen Zügen und lehnt sich an die linke Schulter seiner Schwester, Herr W. kniet vor ihm. Urban legt den Zeigefinger auf die Lippen. Er sagt nichts mehr, nur noch ein kurzes »Pssssst!« entweicht seinem Mund. Nach zwei Minuten schläft er ein, die Schwester legt ihn aufs Bett und hält seine Hand. Urbans Züge entspannen sich, er lächelt, wie er seit März nicht mehr gelächelt hat. Er hat den Krebs besiegt. Er hat die Ketten seines Leidens gesprengt.

Nach knapp zehn Minuten setzt die Atmung aus. Nach sechzehn Minuten spürt die Schwester seinen Puls nicht mehr. Es ist 16.06 Uhr, 26. November 2004. Die Schwester wankt ans Fenster und öffnet es weit, damit die Seele ihres Bruders hinausfliegen kann.

Eine Gerichtsmedizinerin untersucht die Leiche und beglaubigt den Exitus. Im Vorraum befragen zwei Polizeibeamte die Geschwister. Ein Staatsanwalt protokolliert den Todesfall, um gerichtliche Nachforschungen später auszuschließen.

Drei Wochen später trifft die Urne mit Urbans Asche beim Bundeszollamt in München ein. Sie wird überführt in das Leichenschauhaus von R. Bei der Beerdigung spielt ein Freund auf der Querflöte, heitere Melodien aus Kuba.

Auf dem Sterbebild steht ein Gedicht von Rainer Maria Rilke.

Der Tod ist groß.

Wir sind die Seinen

Lachenden Munds

Wenn wir uns mitten im Leben meinen,

Wagt er zu weinen

Mitten in uns.

Über die letzte Reise Urbans ist bis zum heutigen Tage kein einziges böses Wort in der katholischen Heimatgemeinde bekannt geworden.

(c) DIE ZEIT 08.12.2005 Nr.50