BÜCHER

Chronik eines angekündigten Todes

Nicola Bardola hat mit „Schlemm" (A1 Verlag, 18,40 Büro) eine Roman über den Freitod seiner Eltern geschrieben.

(Bild: privat)

Dies ist eine Geschichte von Mut und Zumutung, von einer alle Grenzen sprengenden Entscheidung. Stellen Sie sich vor, Sie bekämen einen Anruf Ihres Vaters. Er würde Sie fragen, ob Sie den Termin wissen wollen. Auf Ihr Ja nennt er ihnen ein Datum. Sie tragen den Tag in den Kalender ein und haben mit einem Mal schwarz auf weiß vor Augen, dass Sie nur noch elf Tage lang Eltern haben werden, die Ihnen so banale Dinge wie das Rezept der Engadiner Nusstorte verraten oder mit denen sie die kleinen und großen Missverständnisse der Kindheit ausräumen können. Denn das Datum im Kalender ist der Todestag ihrer Eltern. Es ist der Tag, an dem die beiden selbstbestimmt, äußerlich unversehrt und im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sterben werden.

Nicola Bardola hat genau das erlebt - und er hat es respektiert. Zwar ließ der Vater auf Bitten des Sohnes in den vier Monaten vor seinem Tod die Diagnose Krebs und seine Perspektive noch einmal von einem weiteren Arzt überprüfen. Aber sein Wunsch, aus dem Leben zu scheiden, wurde durch die gleich lautende zweite ärztliche Meinung nicht umgestoßen. Sein Sohn versuchte nicht, ihn umzustimmen. Er gönnte den Eltern die Ruhe der stillen Abschiedswochen. Denn dies ist auch eine Geschichte von Respekt. Die Eltern des heute 46-jährigen Schweizers starben, weil sie es so wollten. Doch dafür brauchten sie die Hilfe anderer. Die gaben ihnen einen Becher mit dem.hochwirksamen Schlafmittel Natriumpentobarbital. Die Entscheidung, das Getränk auch zu trinken, fällten die Eltern selbst. Viele Jahre hatten sie sich mit dieser Frage beschäftigt, waren schon vor 15 Jahren Mitglied der Schweizer Sterbehilfeorganisation Exit geworden. Der Vater wusste von seiner Krankheit, er wollte gehen, bevor er sich hilflos Morphiumnebeln hätte ergeben müssen. Das war sein seit langem erklärter Wille. Deshalb legte er seinen Tod in die Zeit, in der er noch ohne Beschwerden Herr seiner Sinne war. Er wollte ebenso wie die Mutter noch Kraft haben, sich zu entscheiden.

Sein Sohn Nicola, dem er seine Tagebücher anvertraute und die Erlaubnis, sie zu verwenden, weiß um das Provokative dieser Sicht auf das eigene Leben und dessen Ende. Denn es gibt die, die meinen, man müsse ein Leben bis zum Ende leben. „Auch das kann ich respektieren", sagt Bardola ohne Eifer in der Stimme. Aber wo bleibe dieses natürliche Sterben, das ja vielleicht das Gegenstück zum Geburtsschmerz sei, wenn die Medizin die Sinne vernebelt und von einem natürlichen Sterben nicht mehr die Rede sein könne?

74 Prozent der Deutschen, so eine aktuelle Umfrage, sagen, es solle Ärzten erlaubt sein, Schwerstkranken auf deren persönlichen Wunsch ein tödliches Medikament zu geben. In einer Zeit, in der die Schweizer Sterbehilfeorganisation Dignitas in Hannover eine deutsche Zweigstelle eröffnet hat, Bundespräsident Horst Köhler vom Recht jedes Menschen spricht, „in jeder Phase seines Lebens selbst zu entscheiden, ob und welchen lebensverlängernden Maßnahmen er sich unterziehen will", und der Geschäftsführer der Deutschen Hospizstiftung sowohl aktiver Sterbehilfe als auch dem begleiteten Freitod eine Absage erteilt, kommt Nicola Bardolas Roman „Schlemm" zur rechten Zeit. Denn Bardola hat die Tagebücher seines Vaters verwandt. Er hat ihm den Blick der Kinder und deren Schmerz hinzugefügt - und literarisch verdichtet. Getrauert hat er, bevor er angefangen hat zu schreiben. Trotzdem ist es nicht immer leicht, Roman und Wirklichkeit im Gespräch auseinander zu halten. Denn Bardola hat auf diesen 200 Seiten die selbst gewählte Aufgabe übernommen, die Position der Eltern zu erklären. Vor allem aber hat er Einblicke in das Dazwischen gegeben, in die Gefühle und Wahrheiten, die sich hinter den großen Argumenten verstecken. Geschehen ist das alles schon „vor einigen Jahren", erklärt Bardola und bleibt dabei willentlich ungenau. Er weiß zwar, dass alle Leser und Rezensenten nach dem autobiografischen Hintergrund seines Romans fragen werden. Er will die vielen Fragen auch beantworten. Aber er will nicht mitmachen in einem Schlagabtausch, den sich Gegner und Befürworter der aktiven Sterbehilfe in ritualisierter Form immer wieder liefern. Manchmal enden sie in quizartigen Meinungsabfragen per TED, wie man sie Nicola Bardola jüngst angetragen hat. Er hat die Einladung ausgeschlagen. Genauso weigert er sich, Schlagworte wie „Sterbetourismus" in sein Vokabular aufzunehmen. Das klinge viel zu leicht, nach Urlaub und Vergnügen und „es ist alles andere als leicht, so zu sterben".

Viel lieber möchte er deshalb von „Sterbeemigranten" reden und erzählt weiter von seinen Eltern, die dazu nicht werden mussten, weil sie Schweizer waren und die Rechtslage dort eine ändere ist. Die Eltern planten genau: Sie fuhren noch einmal an ihre Lieblingsorte. Sie schrieben Abschiedsbriefe an die Verwandten, die sie nicht in ihre Pläne eingeweiht hatten. Sie luden ihre Söhne und die Schwiegertöchter zu einem letzten, erstaunlich heiteren Abendessen ein. Danach saugte die Mutter noch die Wohnung.

Die Eltern, beides passionierte Bridgespieler, brachten auch diese entscheidende Partie gemeinsam zu Ende, einvernehmlich. Schlemm, der Romantitel, bezieht sich auf den Sieg beim Bridge, bei dem ein Spielerpaar zwölf oder alle 13 Siege für sich verbuchen kann. Schlemm, das steht aber auch für eine große und tiefe Liebe, die sie bis in den Tod gemeinsam leben. Im Roman ist es die Freitodbegleiterin Frau Zuber, die tut, was Gegnern der Sterbehilfe eine unerträgliche Vorstellung ist.

„Frau Zuber hat das Mittel angerührt und in zwei Plastikbecher gegossen. Campari, Champagner und Joghurt stehen bereit. Frau Zuber verabschiedet sich. Sie lässt Franca und Paul vorläufig alleine, zieht die Tür hinter sich zu. Paul ist schon etwas angetrunken und heiter und ein wenig nervös. Sie trinken die Medizin, er danach noch mehr Champagner, sie den Champagner, nur ein halbes Glas, danach einige Löffel Joghurt. Der bittere Geschmack ist weg. Sie küssen sich. Legen sich auf ihr Doppelbett wie zu einem Mittagsschläfchen. Geschafft. Sie nimmt seine Hand." Die Eltern schliefen gemeinsam ein. .Die Mutter starb jedoch vier Stunde vor dem Vater. Wie sie es wünschten, wurden sie in einer Doppelurne beigesetzt. Für immer miteinander vereint.

Hilke Lorenz

Sonntag Aktuell 16.10.2005

Was den freiwilligen Tod betrifft:

Ich sehe in ihm weder eine Sünde noch eine Feigheit. Aber ich halte den Gedanken, dass dieser Ausweg uns offen steht, für eine gute Hilfe im Bestehen des Lebens und all seiner Bedrängnisse.

Hermann Hesse

  • Grewel, Hans: Lizenz zum Töten - Der Preis des technischen Fortschritts in der Medizin, Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2002
  • Hackethal Julius: Humanes Sterben. Mitleidstötung als Patientenrecht und Arztpflicht, Herbig-Verlag 1988, 375 S.
  • P.G. Winfried Hochgrebe (Hrsg.) Legalisierung der aktiven Sterbehilfe in der Bundesrepublik Deutschland? 2005, ISBN 3-8334-0598-8, Books on Demand GmbH, Norderstedt, 156 Seiten, 11,90 €
  • Illhardt, Franz J.; Heiß, Hermann W. und Dornberg, Martin (Hrsg): Sterbehilfe: Handeln oder Unterlassen?, 1998, ISBN 3-7945-1839-X, KNO-NR: 06 57 39 98 -SCHATTAUER- 168 S., 29.95 EUR
  • Maisch, Herbert: Patiententötungen - Dem Sterben nachgeholfen, Kindler Verlag 1997, 432 Seiten, ISBN 3-463-40254-8
  • Schockenhoff, Eberhard: Sterbehilfe und Menschenwürde - Begleitung zu einem "eigenen Tod", Pustet Verlag, Regensburg 1991 (ISBN 3-7917-1297-7)
  • Peter Singer: Leben und Tod. Der Zusammenbruch der traditionellen Ethik. Harald Fischer Verlag, Erlangen 1998, ISBN 3-89131-120
  • Tolmein, Oliver, Selbstbestimmungsrecht und Einwilligungsfähigkeit - Der Abbruch der künstlichen Ernährung bei Patienen im vegetative state in rechtsvergleichender Sicht, Mabuse Verlag Frankfurt a.M., 2004, 312 Seiten, ISBN 3-935964-73-0, 32 EURO
  • Wolfslast, Gabriele und Conrads Christoph (Hrsg): Textsammlung Sterbehilfe, 2001. XI, ISBN 3-540-67835-2, KNO-NR: 09 27 42 75 -SPRINGER, BERLIN- 49.95 EUR, 251 S.
  • http://www.betreuerlexikon.de/buchlinks.htm#sterbehilfe Literaturübersicht zur Sterbehilfe

Oliver Tolmein: Keiner stirbt für sich allein

Sterbehilfe, Pflegenotstand und das Recht auf Selbstbestimmung;
Bertelsmann Verlag, München 2006; 255 S., 14,95 €